Der Unwille, sich zu entscheiden, hängt mit vielerlei Faktoren zusammen. Da sind Ängste, da sind Mächte, die wirken, da sind lieb gewonnene Routinen und da ist ein Phlegma, das sich zu einer Art gesellschaftlicher Räson gemausert hat. Interessant bleibt, dass der Wille, Entscheidungen zu treffen, durchaus in Beziehung steht zu dem Stadium, in dem sich Gesellschaften befinden.
Sogenannte junge, dynamische Gesellschaften, die ein Ziel vor Augen haben und bei denen viele Veränderungen auf der Agenda stehen, sehnen sich regelrecht danach, Entscheidungen herbeizuführen.
Gesetztere Systeme wiederum wägen bereits ab, wann Entscheidungen opportun sind und wann es vorteilhafter wäre, keine zu treffen. Nur die Formationen, in denen alles gesagt und verteilt ist, wähnen sich in dem Konsens, Stillstand gehöre zum Vorteil aller.
Da ist dann der Status der Dekadenz erreicht, wo die vitalen Fragen nicht mehr entschieden werden. Dann regiert die Symbolpolitik, das heißt man echauffiert sich über Themen, die keinerlei gesellschaftliche Relevanz haben und man entlädt die vorhandenen Energien auf unproduktiven Sektoren.
Nicht wenige Zeitzeugen kommen zu dem Schluss, dass wir uns in der zuletzt beschriebenen Phase befinden. Nimmt man das Regierungshandeln, so kann dieser Eindruck tatsächlich entstehen. Dieser Schein trügt jedoch, wenn sich der Blick auf die herrschenden Produktivkräfte und die kreativen Potenziale richtet, die in der Gesellschaft im Übermaß vorhanden sind. Wissenschaft, Technik, soziale Kybernetik, die dicht an den wissenschaftlich-technischen Schnittstellen waltenden Energien unserer Gesellschaft weisen eine Dynamik auf, die atemberaubend ist.
Worunter die Entwicklung in allen Ländern des “Fortschreitens” leidet, ist die Kluft zwischen Technik und Gesellschaft und die Kluft zwischen Technik und Kultur.
Anthropologisch zu vollziehende Entwicklungsprozesse sind keine Frage von Material oder Prozessor, sondern von Erkenntnis und Bewusstsein. Daher, dieser Seitenhieb sei erlaubt, besteht kein Grund für die arrogante Dummheit der Technokraten, die Gesellschaft und ihre Politik für rückständig und begriffsstutzig zu halten. Die Intelligenz a priori, der Homo sapiens, erzielt jeden Gewinn in einem Spannungsfeld von Hirn und Verhalten. Hielte er das nicht aus, wäre nichts mehr existent.
Dennoch ist Kritik an der konkret gelebten Politik in diesem Lande erlaubt. Sie bezieht sich nicht mehr auf die Produktivkräfte und die Herausforderungen, die sie stellen, sondern sie laboriert an den Symptomen der eigenen Überforderung.
Es werden nicht die Fragen nach der Zukunft gestellt, sondern es wird der Versuch unternommen, den provisorischen Status der Gegenwart festzuschreiben. Das Mittel dazu sind nicht getroffene Entscheidungen und die Relativierung jeder Option, es ist die Suggestion von Komplexität und die Überbetonung von Kollateralschäden. Wer so operiert, hat nichts mehr im Sinn als die Festschreibung des Status quo.
Der Verweis auf lange, intensive Gespräche, ein Running Gag, der in die Annalen der sprachlichen Verwahrlosung unserer Tage eingehen wird, ist der Versuch, den Stillstand in einen Fleißnote umzuwerten.
Helfen wird das alles wenig, weil die Produktivkräfte sich den Weg suchen werden, auf dem sie sich entfalten können.
Das muss nichts Gutes heißen, denn die Einbettung dessen, was technisch möglich ist, in einen politischen und sozialen Rahmen, in dem gesellschaftlich entschieden ist, was gestattet wird, ist die eigentliche Aufgabe von Politik in der verwissenschaftlichten Gesellschaft. Wenn sie das nicht mehr leistet, muss sich schnell etwas ändern, sonst gerät das gesamte Projekt Zukunft außer Kontrolle.
Illustration: Geralt (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Projekt Zukunft außer Kontrolle“
Es ist traurig, dass solche Überlegungen auch nicht die geringste Beachtung in den öffentlichen Medien finden. Sollen die Bürger alle zu Maschinen-Menschen erzogen werden? Sollen schon die Kinder lernen, sich nur noch mit den Klimperkästen zu befassen. Soll unser ganzes Denken auf die Vermehrung des Umsatzes und des DAX und des BIP sein, dann hat der Mensch als “homo sapiens” wohl ausgedient.