Die Tochter beobachtete ihren alten Vater unauffällig. Sie hörte aus der Entfernung, wie er das kleine Mädchen zur Ordnung rief. “Fehlfunktion!” Es musste noch die Kartoffeln schälen.
Die Tochter sah, dass das kleine Mädchen genau wusste, was ihm drohte.
Es reagierte unverzüglich.
Ihr Vater lachte in sich hinein.
Sie hatten die Kleine Fehlfunktion getauft, da das Mädchen an einer genetisch bedingten Nervenstörung litt. Aber zum Kartoffelschälen war sie gut.
Sie war ihnen zugelaufen, offensichtlich obdachlos und schon länger auf der Straße.
Bevor sie das gebärfähige Alter erreichte, würden sie sie töten.
Sie wusste, dass die Menschen in den Städten sie nicht verstanden.
Sie hatten sich schon vor vielen Jahrzehnten auf diesem alten Landgut abgeschottet. Sie vermieden den Kontakt nach außen soweit möglich.
Und die nächste Stadt war weit entfernt.
Sie betrachtete ihren Vater, wie er sich bückte um eine Kartoffel aufzuheben, die beiseite gerollt war. Deutlich war zu sehen, dass ihn der Rücken schmerzte, er wurde immer hinfälliger und dysfunktionaler.
Er wurde alt.
Auf seinem Gesicht war ein Zucken zu sehen, als ihm der Schmerz den Rücken entlang kroch.
Die Tochter erinnerte sich an die Zeit ihrer eigenen Kindheit.
Ihr Vater hatte diese Gemeinschaft gegründet, um den Neuen Menschen zu züchten. Sie hatten strenge Auswahlkriterien festgelegt und sie hatten hier auf dem Landgut eine Gemeinschaft mit eigenen Regeln geschaffen.
Neugeborene, die nicht der Norm entsprachen, wurden getötet. Zwei ihrer Geschwister hatte ihr Vater in der Regentonne ertränkt.
Die Reste hatten er an die Schweine verfüttert. Immer und immer wieder hatten er es ihr und ihren Brüdern erzählt, damit sie begriffen, dass nur die Starken überleben dürfen.
Fehlfunktion war mit dem Kartoffelschälen fertig. Ihr Vater brüllte die Kleine mürrisch an: “Bring sie in die Küche!”
Ihre Mutter war nun schon 10 Jahre tot. Sie selbst führte nun die Gemeinschaft. Ihr Vater war dafür zu krank, zu alt und hinfällig. Und sie war stark, sie hatte immer schnell begriffen.
Sie hatte noch zwei Brüder, Bernd und Uwe.
Uwe, ihr jüngerer Bruder, hatte aus ihrer Sicht zu Unrecht überlebt. Sie hätten auch ihn ersäufen sollen. Aber ihre Mutter war bei seiner Geburt schon alt gewesen, alt und schwach. Selbst heute, als erwachsener Mann, benahm sich Uwe noch linkisch.
Er hatte auch das kleine Mädchen angeschleppt, für Fehlfunktionen war er Spezialist.
Seitdem war Fehlfunktion hier.
Sie bemerkte, dass sich ihr Vater auf den Weg zum Holzschuppen machte, seine tägliche Routine. Wieder war auf seinem Gesicht zu sehen, dass die Bewegungen ihm Schmerzen bereiteten.
Es wurde Zeit, sie hatte alles organisiert.
Als er um die Ecke der Scheune bog, erwartete sie ihn bereits, zusammen mit ihren Brüdern und zwei weiteren Mitgliedern der Kommune. Sie fesselten ihn.
Ihr Vater begriff nicht. “Was soll das?”
Sie sah ihn an. “Du wirst alt. Du bist dauernd krank.”
Dann sah sie zu Uwe, der auf den Boden starrte, einmal sollte er beweisen, dass er etwas taugte. “Auf Dich können wir bei der Ernte am leichtesten verzichten, du wirst Vater töten und vergraben.”
Ihr Vater sah sie entsetzt an. “Aber ich bin Dein Vater.”
Sie sah ihn an. “Ich weiß.” Sie wandte sich mit einem Schulterzucken ab und und sprang auf den Traktor. Den Rest konnte ihr kleiner Bruder erledigen.
Doch Uwe war selbst dieser einfachen Aufgabe nicht gewachsen. Sie begriff das, als ihr Vater kurz darauf wieder auf dem Acker auftauchte.
Uwe lief gestikulierend hinter ihm her. Der alte Mann hatte ihm versprochen, zu verschwinden, falls er ihn nicht tötete.
Und ihr Bruder hatte ihn laufen lassen.
Natürlich hatte ihr Vater nie daran gedacht, zu verschwinden. Er marschierte direkt zum Acker, um sie zu überzeugen, dass er noch fit war.
Als sie ihren Bruder und ihren Vater sah, sprang sie vom Traktor. Sie sah Uwe nur kalt an, er hatte einmal zu viel versagt, dann stach sie ihm ein Messer ins Herz. Ihr Vater hatte nichts anderes erwartet. Er lächelte sie an. Doch sie sah nur kalt zurück. “Es hat sich nichts verändert.”
Das letzte, was der alte Mann spürte, war der Axthieb ihres zweiten Bruders, der sich ihm von hinten unauffällig genähert hatte.
Sie säuberte ihr Messer und nickte ihrem zweiten Bruder zu.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihr Mann sie aus misstrauischen Augen betrachtete, nur kurz.
Sie würde mit ihm sprechen müssen, nachher.
Sie hatte diesen Mann ausgewählt und in die Gemeinschaft gebracht.
Er war der einzige Neuzugang der letzten Jahre.
Sie sah alle auf dem Acker an. “Wir dürfen nie nachlassen in unserem Streben nach Verbesserung.”
Sie wies einen der Männer an, ihren Vater zusammen mit ihrem Bruder in der Kalkgrube zu vergraben.
Dann gingen sie auseinander, wieder an ihre Arbeit.
Als sie abends zum Haus zurück kam, war ihr Mann verschwunden. Sie fand nur einen Zettel, in dem er sie als Mörderin bezeichnete.
Er hatte nicht begriffen. Aber er war schon zu lange weg, um ihn noch einzuholen.
Falls er die Behörden in der Stadt informierte, war alles vorbei.
Und er würde genau das tun, sie war sich mit einem Mal sicher.
Und sie hatte ihn ausgewählt, sie hatte dies verursacht.
Sie sah vor ihren Augen, wie alles kommen würde. Sie hatten nur noch wenige Stunden Zeit.
Sie hatte versagt, als Frau hatte sie mit der Auswahl dieses Mannes versagt.
Sie war also auch nur eine Missgeburt, wie ihr kleiner Bruder, wie ihr Mann. Offensichtlich waren sie alle Missgeburten, degeneriert, wie alle Menschen.
Alle hatten den Tod verdient.
Zuerst tötete sie ihre Kinder, die Kinder einer Missgeburt und eines Mannes, der ein Verräter war, dann bestellte sie alle in die kleine Scheune. Sie sorgte dafür, dass niemand überlebte.
Zum Schluss tötete sie sich selbst.
Nur Fehlfunktion, das kleine zugelaufene Mädchen, hatte sich rechtzeitig verkrochen.
Und der Tochter war dieses Ding zu unwichtig, um sie zu suchen.
Nach einiger Zeit kroch die Kleine aus ihrem Versteck. Alle waren tot.
Das Mädchen konnte es nicht glauben, doch es war, wie es war.
Auf einmal hörte das kleine Mädchen Polizeisirenen.
Die Kleine wollte sich zuerst verstecken, doch dann setzte sie sich auf die Wiese.
FIN
Foto: Morgan Basham (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!