Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer versuchen es zur Zeit mit der Plattform „Aufstehen!“, andere stricken an bestimmten Aktionsbündnissen und wieder andere arbeiten an Netzwerken, die dann greifen sollen, wenn es darauf ankommt.
Und alle Aktivitäten stoßen im Keim auf Ablehnung zumindest jener, die jede Aktion als synthetisch reines Extrakt ihrer eigenen Weltanschauung sehen wollen. Ansonsten ist es nicht wert, unterstützt zu werden. Einigkeit besteht lediglich in der Einschätzung, dass es nicht so weitergehen kann, wie es das momentan tut.
Denn das, was wir erleben, ist der Kurs auf den Eisberg. Ohne Abwege, straight! Und das ohne jede Form heroischer oder psychedelischer Romantik.
Der Liner, der da auf den Crash zusteuert, ist ein alter, schwerfälliger Kahn, auf dem nicht einmal eine Band spielt. So weit hat uns der Wirtschaftsliberalismus gebracht. Seenot, ohne ein einziges Zeichen übrig gebliebener menschlicher Kultur.
Das, was der amerikanische Endzeitphilosoph Fukuyama [1] einmal im trunkenen Triumphalismus als „das Ende der Geschichte“ bezeichnet hatte, die Implosion der Sowjetunion und der Sieg des freien Kapitalismus, ist zu einem Albtraum geworden.
Wer von denen, die damals von der Entfaltung der Demokratie geträumt haben, hat heute eigentlich noch alle Sinne zusammen?
Diejenigen, die es ehrlich meinten, werden im Tollhaus oder unter dem Einfluss starker Narkotika auf das Ende warten und es als eine Erlösung wie aus einem bösen Traum betrachten. Und diejenigen, denen klar war, dass das Ende der Geschichte das Ende der Zivilisation im Westen bedeuten würde, sie haben sich auf eine Koexistenz mit der Barbarei eingerichtet und frönen dem sozialen Vergleich, obwohl es, sollte es so weiter gehen, nichts mehr zu vergleichen gibt.
Die Liquidatoren der westlichen Zivilisation waren schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterwegs. Und die Sowjetunion war nur deshalb eine Art Faustpfand für die neuzeitliche Zivilisation, weil es hätte sein können, dass die Opfer selbst des gemäßigten Kapitalismus sich hätten aus Verzweiflung an ihr orientieren können. Auch das wäre fatal gewesen, aber die Möglichkeit wurde einkalkuliert. Nun, da diese Versuchung nicht mehr entstehen konnte, wurde losgelegt, was das Zug hielt.
Heute, im Oktober des Jahres 2018, sind wir Zeugen, was aus dem Ende der Geschichte tatsächlich geworden ist.
Da relativiert der Präsident der noch mächtigen USA die Position zum Großinvestor und Ölexporteur Saudi-Arabien in einem offenen Mordfall, weil ein Rüstungsauftrag von mehr als 100 Milliarden Dollar in den Büchern steht.
Jeden Tag erleben wir die Eskalation der Barbarei. Sie ist allgegenwärtig. In diesem Kontext über Werte zu sprechen und dagegen nichts zu tun, und zwar im täglichen Leben, in den Routinen, das ist Kapitulation.
Besonders in Deutschland erliegt nahezu die gesamte Nation der Unterscheidung zwischen richtigem Leben hier und großer Politik dort. Vielleicht ist es deswegen auch alles so schwer in diesem Land: Mit der Nationenbildung, mit einer anständigen Revolution und mit einem wirksamen Widerstand.
Wäre endlich klar, dass das Leben dort spielt, wo sich jeder Einzelne gerade befindet, dann ginge manches einfacher von der Hand.
Wer sich im Alltag drangsalieren lässt, wer schweigt, wer sich unterwirft, wer nicht lernt, dass es möglich ist, den Befreiungsschlag zu setzen, kann sich eigentlich nicht wundern, dass so etwas in der „großen Politik“ auch nicht passiert. Alles ist eine Frage von Einstellung und Bereitschaft.
Quellen und Anmerkungen
[1] Yoshihiro Francis Fukuyama ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler. In seinem Buch Das Ende der Geschichte (1992) beschreibt er den Verlauf der geschichtlichen Evolution als gesetzmäßige und teleologische Verkettung von Ereignissen. Geschichte ist demnach keine zufällige Anhäufung von Umständen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Fall der Berliner Mauer 1989 hätten zu einer Schlussphase der politischen Systementwicklung geführt. Totalitäre Systeme (zum Beispiel Kommunismus und Faschismus) stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Der Weg wäre frei für eine liberale Demokratie. Totalitäre Systeme sind zum Scheitern verurteilt, weil sie dem Grundgedanken des Liberalismus widersprechen. Mehr Informationen auf https://de.wikipedia.org/wiki/Francis_Fukuyama ↩
Illustration: Pixabay.com, Creative Commons CC0.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Der Kurs auf den Eisberg“
»Einigkeit besteht lediglich in der Einschätzung, dass es nicht so weitergehen kann, wie es das momentan tut«
M.E. sprechen Sie hier unter anderem das Problem der Kohärenz an: etwas Neues kann nur entstehen, wenn Kräfte DAFÜR gebündelt werden (=Kohärenz). Eine positive Veränderung, die ja eine GESTALTUNG ist und nicht irgendein Chaos, benötigt also diese Kohärenz bzw. umgekehrt: es reicht bei weitem nicht aus, sich nur in dem einig zu sein, was man NICHT will.
Je weniger die Individuen innerhalb einer Gesellschaft »kohärenz« – die Bündelung – aus sich selbst (dem Kern – nicht aufgeschwatzten “Selbstbildern”) schaffen können, um so mehr leisten sie Vorschub der politischen Bündelung (mafiöse Strukturen, Faschismus – fascere – bündeln).
Das ist sozusagen ein Grundgesetz und entspricht der Projektion und der Polarität: das Nichtsehenwollen der Unterlassungshandlungen (im Sinne von Kohärenz) also im INNEN, entwickelt im AUSSEN das Zerrbild desselben (Kohärenz als Zwangsmaßnahme = Faschismus).
Dieses Zerrbild wird um so krasser, je länger die Menschen in der Projektion und damit gleichbedeutend in der inneren Spaltung (Kognitive Dissoziation) bleiben, so daß mehr und mehr Leid entstehen muß ( in der Hoffnung, daß sich die Menschen vielleicht doch mal bewegen mögen – im Sinne der Kohärenz).
»Wäre endlich klar, dass das Leben dort spielt, wo sich jeder Einzelne gerade befindet, dann ginge manches einfacher von der Hand.«
Hier rekurieren Sie m.E. auf die Anschlußfähigkeit von Ideen, Maßnahmen, Innovationen: wenn es nicht gelingt, die Menschen in ihrem Alltag abzuholen, in ihren Gewohnheiten und sonstigen Strukturen, dann haben wir es nicht mit potenziellen Umsetzungen oder Transformationsmöglichkeiten zu tun, sondern mit ideellen Scheingebilden – so wie das hier erst mal meine Worte sind. Allein daheraus wachsen ja keine Handlungen!
Das wird konsumiert – hat eventuell Unterhaltungswert …
Als Kommentator mache ich ja keinen Hehl daraus, was ich persönlich als TATsächliche Alternative ansehe, die genau auch die beiden oberen “Probleme” löst: sie bietet die völlig legale und friedliche Grundlage zur Kohärenz einerseits und sie bietet eine Möglichkeit, wie der Einzelne genau dort weitermachen kann, wo er steht – aber durch völlig andere Rahmenbedingungen nämlich in und mit seiner jeweiligen Umgebung EIGENE Rahmenbedingungen zu gestalten!
Hier ist also das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage zu sehen: die Begegnung auf Augenhöhe – jeder Mensch ein König (Kern, Herkunft) – und auf dieser Grundlage entsteht Kohärenz als Gestaltungskraft und wir bereichern uns gegenseitig mit unseren Fähigkeiten und unserem individuellen Sein (Solidarität und Souveränität).
Der Kurs auf den Eisberg kann also verlassen werden: friedlich, legal (GG Art.25, GG Art.146, Völkerrecht: Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes, das Volk ist der Rechtsträger!!!) – Gemeinden, Städte haben das Recht sich von der Regierung loszulösen (Stichwort: »Gemeindewechsel«).
Vielen Dank für Ihren Beitrag …
Ist es nicht doch das Geldsystem, das die gesamte Wirtschaft und damit auch andere Aktionen einfach blockiert. Mit der Zeit hat sich dann übermäßig viel Geld bei wenigen Reichen angesammelt und die nötigen Zinsen können nicht mehr erwirtschaftet werden. Und zum Aufstehen fehlt Vielen der Mut, weil die Angst um den Arbeitsplatz in solchem Zustand einen Aufstand lähmt. Weiterhin ist auch Vielen garnicht bewußt, wie kritisch die Lage auf dem Finanzmarkt ist. Bestes Beispiel die letzten Aktionen der italienischen Regierung.
“damals von der Entfaltung der Demokratie geträumt” – da müssten wir zuerst eine Demokratie haben, um sie entfalten zu können. Ich behaupte, dass es bisher nirgends Demokratie in ihrer tatsächlichen Bedeutung gab und gibt und von den Strippenziehern und -innen der Machtstrukturen auch gar nicht gewollt ist, sonst wäre wenigstens die Europäische Union demokratisch institutionalisiert worden. Aber es wurden auch da nur die Verträge von Rom (Montanunion etc.) mit tausenden Seiten weiter geschrieben, deren Inhalte und Nutzen selbst die sogenannten Experten gar nicht mehr kennen, geschweige denn wiedergeben können.
In allen Grundgesetzen / Verfassungen von Staaten wurden zwar klare Prinzipien festgeschrieben, dass die Repräsentanten und Organe des Staates dem Gemeinwohl zu dienen haben, aber ebenso konsequent werden diese ach so heiligen Gesetzestexte ignoriert und kein noch so hoher Gerichtshof interessiert sich je für diese eklatanten Gesetzesbrüche !
Die globale Maxime der “Volksvertreter” ist: mittels Schein-Demokratie soviel als möglich an Schein-Kapital zusammen zu raffen.