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Meinung

Der Angriff auf die Appellative

Willkommen in der Sprache eines neuen Totalitarismus.

In der deutschen Sprache existiert ein Konstrukt, das in hohem Maße Sinn vermittelt. Es handelt sich um die sogenannten Appellative. Sie umschreiben etwas, das existiert, aber von dem es keinen Sinn macht, es zu quantifizieren.

Jeder Mensch kennt diesen Umstand und ist es auch gewohnt, mit dem Appellativ zu arbeiten. Es handelt sich um Substantive wie Hunger und Durst, aber auch um Wasser und Feuer, die einen Zustand oder eine Substanz beschreiben, die nicht quantifiziert werden können. Bis auf den Tag, an dem der Plural Einzug hielt und nicht nur einen Angriff auf die deutsche Grammatik führte, sondern auch dokumentierte, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist. Nämlich das, in dem nicht nur vieles, sondern alles gemessen, gewogen und gezählt werden kann.

Der Tag, an dem die Verwertungslogik dem letzten Rest an menschlicher Vernunft den Krieg erklärte.

Es begann mit dem Wort Bedarf. Auch der Bedarf war und ist etwas, das nicht genau quantifiziert werden kann und muss. Wenn Bedarf besteht, muss er gedeckt werden. Wie, das wird sich in einem Prozess der Erkenntnis noch herausstellen.

Anscheinend ist diese Unwägbarkeit ein zu großes Risiko gewesen für die Logik der Vermarktung. Plötzlich gab es Bedarfe, die genau benannt werden konnten oder zumindest meinten, dass sie benannt werden könnten. Und zunächst schleichend, dann zügig, bekam der Appellativ Bedarf einen Plural und die Logik der deutschen Sprache eine schallende Ohrfeige.

Ja, auch Appellative haben zuweilen einen Plural, dabei handelt es sich um Ausflüge in die Fachsprache, dann werden aus verschiedenen Stahlsorten Stähle.

Die Übertragung dieser Regel auf das Ganze bedeutet jedoch eine Revolution. Sie ersetzt die feine Logik, die es versteht, Sinn, Ethik und die reale, zählbare Welt in ein Verhältnis zueinander zu setzen, durch die Weltanschauung der Registrierkasse.

Alles ist zählbar, alles ist messbar, alles kann gewogen und quantifiziert werden und demnach kann allem ein Wert zugemessen werden. Das ist gut für den Markt, das ist das Ende von Entscheidungen, denen andere Kriterien zugrunde liegen wie die nackte Verwertung.  Willkommen in der schönen neuen Welt! Willkommen in einer Sprache, deren Semantik entschlüsselt werden kann als die eines neuen Totalitarismus.

So aberwitzig es klingt: Mit dem Plural für Bedarf wurde die Tür geöffnet für die Privatisierung von Wasser und Luft, lebenserforderliche Ressourcen für jedes Individuum. Schon haben große Konzerne ihren Griff danach verdeutlicht und in den unüberschaubaren und intransparenten Korridoren der EU wird bereits darüber verhandelt.

Wir wittern was naht und wir ringen um Strategien, um die schöne neue Welt, die im richtigen Leben die lodernde Hölle ist, noch irgendwie zu verhindern.

Dazu bedarf es vieler Schritte. Einer von den vielen wird sein, aus dem Bedarf keine Bedarfe zu machen, das Wasser und die Luft nicht quantifizierter zu machen und den Schlächtern ethisch und kulturell abgeleiteter Sprachformen den Kampf anzusagen.

Es ist töricht, jeden Trend in der Sprache zu kopieren und mitzumachen. Das Wort geht der Tat voraus. Das schrieb nicht nur der kluge Heinrich Heine, das wusste die abendländische Zivilisation bis in die Antike und das gilt auch heute noch.

Daher ist es unabdingbar, die Appellative zu retten. Vor dem Zugriff durch die Registrierkasse!


Illustration: Bikki (Pixabay.com, Creative Commons CC0).

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

5 Antworten auf „Der Angriff auf die Appellative“

Meine Damen und Herren hier im Blog…

Im Newsletter ist immer nur eine Zeile vom Text zu lsen. Da weiß man immer nur, dass es einen neuen Text gibt, aber nie, ob das Thema interessant ist. Also 3-7 Zeilen vom Text wären schon mehr als hilfreich!
Ich klicke ja nicht in jeden Newsletter rein, sondern prüfe erst das Thema.

nach meinem Wissen ist es bei WordPress so, dass es ein Weiterlesen-Tag gibt, das man im Text einsetzt, um diese Position zu bestimmen. Ob es da zwei verschiedene Funktionen gibt, die etwas ähnliches erreichen, weiß ich allerdings nicht. Ich kenne nur das Weiterlesen-Tag.

Andere Nachrichten, die ebenfalls über WordPress kommen, sind jedenfalls nicht soooo kurz, teilweise sogar ausgesprochen vollständig.

Das Grundgesetz scheint auch ein Appelativ zu sein.
Schön, wenn man eins hat und wie eine Monstranz vor sich hertragen kann, aber man muss sich (als Politik und Exekutive) nicht dran halten.

Wie Praktisch!
(Wieso denke ich jetzt an den Oetker-Sohn und auch an Jugoslawien?)

Was für das Grundgesetz gilt, gilt auch für die “westlichen Werte” oder die “Wertegemeinschaft”.
Es ist so schön, dass wir sie haben! *hust*

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