François de Salignac de La Mothe-Fénelon, ein französischer Geistlicher und Schriftsteller, der bereits im Jahr 1715 verstarb, war derjenige, der die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit miteinander in Beziehung brachte. Damit schuf er lange vor der eigentlichen Relevanz der bürgerlichen Revolution eine Denkaufgabe, die bis heute Bestand hat. Denn die Liaison dieser drei Begriffe ist bis heute selbst vielen aktiven Politikern nicht bewusst.
Vielmehr wurde das große Motto der bürgerlichen Revolution meistens als eine Aneinanderreihung von Zielen verstanden, unter denen sich möglichst viele Menschen zusammenfinden sollten.
Die historische Entwicklung vieler bürgerlicher Gesellschaften hat gezeigt, dass die Krisen, in die diese jeweils gestürzt sind, in einem Missverhältnis der drei Begriffe zueinander bestand, während die Blütezeiten jeweils dadurch ausgezeichnet waren, dass sich die herrschende Politik auf die Wechselseitigkeit und die Balance von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bezog.
Die Freiheit ist ein Signet eines bestehenden Willens und der vorhandenen Stärke, sie leben zu wollen. Gleichheit bedeutet das formale Recht eines jeden, vor dem Gesetz mit jedem anderen konkurrieren zu können. Brüderlichkeit wiederum ist die gesellschaftliche Übereinkunft, sich auch um jene zu kümmern, die trotz der formalen Gleichheit aufgrund welcher Umstände auch immer in Not geraten sind.
In dieser Kombination hat die bürgerliche Idee eine geniale Formel bekommen, um sich eine Balance schaffen zu können, die durch die Dynamik von Eigentum und Produktivität ständig bedroht ist. Der bürgerlichen Gesellschaft liegt eine gedachte Humanität zugrunde, die sie de facto nie wird komplett einlösen können, die jedoch, wenn spirituell vorhanden, in der Lage ist, die auseinander strebenden und aufeinander zusteuernden Kräfte zusammenzuhalten und voreinander zu bewahren.
Das Prinzip ist mit den drei Begriffen einfach formuliert, aber es ist ein kompliziertes Konstrukt.
Die historische Phase, in der wir uns befinden, ist eingebogen auf die Straße der großen Krisen. Es ist das Ergebnis einer langen, nahezu exklusiven Bezugnahme auf das Prinzip der Freiheit. Die Freiheit derjenigen, die Willen und Mittel hatten, ihre Interessen durchzusetzen, dominierte seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan, über Tony Blair und Gerhard Schröder bis hin zu Wolfgang Schäuble und Emmanuel Macron. Sie alle traten und treten ein für den Wirtschaftsliberalismus, für Steuersenkungen, für Staatsrückbau, für Deregulierung und Privatisierung.
In der Folge dieser Politik wurde die formale Gleichheit zu einem obszönen Verweis, weil die verfügbaren Mittel und die Lebensunterschiede in der Gesellschaft so exorbitant voneinander abzuweichen begannen, dass nur noch von einer Farce gesprochen werden kann. Und es kam hinzu, dass das Maß völlig aus den Fugen geriet.
Wenn es im Strafmaß schmerzhafter wird, sich ein Stück Bienenstich vom Blech zu schnappen als den Staat steuerlich um Millionenbeträge zu übervorteilen, dann ist das Prinzip der Gleichheit geschändet.
In Zeiten wie diesen von dem Prinzip der Brüderlichkeit zu sprechen, erscheint nahezu als nostalgische Wehleidigkeit. Sie wurde als erste geopfert und spielt de facto in der neoliberalen Welt keine Rolle mehr.
Ausgehend von der Maxime einer ausgleichenden Rolle der bürgerlichen Gesellschaft muss das Fazit gezogen werden, dass Gleichheit und Brüderlichkeit der Freiheit geopfert wurden.
Die Krise der liberalen Demokratie, über die allenthalben lamentiert wird, ist selbst verschuldet. Sie hat den Starken, die nur stark sind, weil sie gesellschaftlich nicht in die Pflicht genommen werden, alles geopfert.
Auf der Agenda der nächsten Jahre müssen Gleichheit und Brüderlichkeit ganz oben stehen!
Foto: Ezra Comeau-Jeffrey (Unsplash.com).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
5 Antworten auf „Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Agenda!“
Falls die Menschen wieder anfangen zu denken, sollten sie feststellen, dass dass das Streben nach Wirtschaft und Wachstum solch ein immens starkes Interesse einnimmt. Wir alle gehören doch der Menschheit an. Da müsste doch mal wieder der Mensch im Vordergrund stehen.
In Rudolf Steiners Dreigliedrigkeits-Konzept, wird Gleichheit für das bürgerliche Rechtssystem (Gleichheit vor dem Gesetz), Brüderlichkeit als Eigenschaft des Wirtschaftssystems (Genossenschaftliche, solidarische Wirtschaftsformen) und Freiheit für das Geistesleben (Bildungssystem, Kunst) gefordert. Ich finde das bedenkenswert, denn Gleichheit im Geistesleben ist totalitär, Gleichheit im Wirtschaftsleben ist Kollektivismus – Brüderlichkeit im Rechtswesen ist Nepotismus und Durchstecherei…. Jedes System gleicht einem “Organ” des gesamtgesellschaftlichen Körpers und fordert andere Bedingungen für ein ordnungsgemäßes Funktionieren.
Sehr interessant. Ich war auf der Waldorfschule und finde es manchmal sehr schade dass wir über die verschiedenen Theorien Steiners gar nichts gelernt haben – zumindest nicht in der Frankfurter Waldorfschule. Aber vielleicht hat sich das mittlerweile geändert…
Ich kann hier nur zustimmen, die Freiheit ist zum Totschlagargument der Neo-Liberalsten geworden. Wenn ein Herr Orbán dann, genau darauf Bezug nehmend, davon spricht, dass Ungarn lieber eine illiberale Demokratie sein möchte, wird er als Rechtspopulist verhöhnt. Das soll nicht bedeuten, dass Orbán nicht zu kritisieren wäre, eher das Gegenteil ist der Fall. Aber eine andere Art der Auseinandersetzung mit dem Thema an sich, der er mit seiner Argumentation eine Chance gibt, wäre doch wünschenswert – ist aber wohl nicht gewollt.
Zum wiederholten Male. Freiheit hat immer! ihre Grenze in der Freiheit des anderen. Ist ach in der goldenen Regel enthalten; Was du nicht willst,das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.