Ich bin der Tage überdrüssig. Ich ertrage sie nicht mehr, diese ewig gleichen Impressionen, aus denen sich die sogenannte Realität zusammensetzt: Ein Mann schlägt den Kofferraumdeckel zu, ein Hund pinkelt dahin und dorthin, ein Flugzeug am Himmel, “und da sag ich, nee, sag ich …”, ein Bus hält, ein Kind tritt gegen die Litfaßsäule und die anderen kauen lustlos auf dem Stück Zeit herum, das man ihnen zugeworfen hat.
Überdruss. Ich möchte mir die Tage ausziehen wie ein schmutziges Hemd, ich möchte der Mann sein, der seinen Kopf durch den Himmel steckt und verzückt ins Nichts starrt.
Dies ist einer der 258 Gedanken, die der Science-Fiction-Autor Dirk C. Fleck 1985 in einem Manuskript niederschrieb. 33 Jahre nach dem letzten Satz, einer Karriere als Journalist und zahlreichen Romanveröffentlichungen, die sich mit dem Kollaps des Ökosystems Erde und dem Niedergang der Zivilisationen auseinandersetzen, hat er seine Aphorismen in dem Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger” veröffentlicht.
Endlich, möchte man meinen. Fleck beschreibt auf seiner Webseite den Weg vom ersten Gedanken bis zum Buch:
“Die vorliegenden Aufzeichnungen aus dem Jahre 1985 sind das Resultat einer großen Anstrengung, eines Überlebenskampfes, wenn man so will. Nachdem ich zuvor zwanzig Jahre in diversen Redaktionen gearbeitet hatte und feststellen musste, wie mein Traumberuf langsam aber stetig vom demokratischen Korrektiv zum Handlanger von Kapitalinteressen mutierte, war ich erstmals kühn genug, den Ausstieg zu wagen.”
Die Achtziger sind geprägt von zunehmender Beschleunigung. Die Technik erblüht, die Produktion steigt an, der westliche Wohlstand wächst. Auch in Deutschland. Es gibt Homecomputer, Compact Disc und die erste E-Mail ist schon verschickt. Im Totenwinkel verödet die Dritte Welt. Gewalt ist allgegenwärtig, aber weit entfernt. Bei einem Bombenanschlag auf Muhammad Hussein Fadlallah, den geistigen Anführer der schiitischen Hisbollah, werden am 8. März 1985 in Beirut über 80 Menschen getötet. Es folgen ein paar Schlagzeilen, dann weiter zu Politik und Sport.
Das politische Karussell dreht sich. In der Sowjetunion wird Michail Gorbatschow am 8. März Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Mit ihm wird später das militärische Engagement der UdSSR in Afghanistan enden und auch der Kalte Krieg. Für Begeisterung sorgt das Tenniswunderkind Boris Becker. Der 17-Jährige gewinnt im Sommer das Finale von Wimbledon gegen den Südafrikaner Kevin Curren. Deutschland hat endlich wieder einen Helden.
Und in Hamburg sitzt Dirk C. Fleck an seinem Schreibtisch und versucht, die persönliche Melancholie in Schrift zu bändigen, die ihn überfällt bei der Analyse des Tagesgeschehens. Zur Untermalung hat er die Scheibe Bringing It All Back Home aufgelegt. Fleck erinnert sich:
“Ich wollte nicht länger auf „Maggies Farm“ arbeiten, wie es Bob Dylan so treffend ausdrückte, ich tauschte finanzielle Sicherheit gegen Unabhängigkeit – in der guten Hoffnung, dass mir als freier Journalist, der zudem über einige Beziehungen verfügte, ein bescheidenes Einkommen beschieden sein würde.”
Eine Fehleinschätzung, wie sich noch herausstellen wird. Der Journalismus befindet sich bereits in einer Phase der Transformation hin zum reinen Verwertungsprodukt, und verschwindet langsam im Schlund der Profitoptimierung. Dem fleißigen Schreiber bleibt beim Blick in den leeren Kühlschrank als letzte Ausfahrt die Schundliteratur.
Dass mich die Marktlage, in der eine neue Kaste von Verlagsmanagern ihre Häuser inzwischen wie Schraubenfabriken führten, selbst wenn in ihnen an den Stellschrauben der Gesellschaft gedreht wurde, schneller in die Knie zwang als erwartet, war nicht vorauszusehen. Mein journalistischer Niedergang bis hin zum Verfassen von Trivialromanen für die Regenbogenpresse ist aber nur die eine Seite der Medaille. Um meinen inneren Kompass nicht gänzlich zu verlieren, machte ich es mir zur Pflicht, mich mit täglichen Fingerübungen „frisch“ zu halten.
Das Cover zum Buch ist ihm wichtig, weil es keine Fragen zum Inhalt beantworten kann, sondern einen “übergeordneten” Bezug hat, der den “Grundtenor” herausfiltert, wie Fleck meint. Es geht um die Entwicklung der Menschheit, ihren Umgang mit der Welt und das absehbare Scheitern. Fleck macht einen gedanklichen Strich und zieht Bilanz:
“Während wir seit Jahrzehnten sehenden Auges auf eine ökologische Katastrophe zusteuern, haben wir uns zu totalüberwachten, manipulierten Claqueuren entwickelt, deren Gier, Ignoranz und Gleichgültigkeit das Desaster erst möglich macht, weswegen uns die Chose demnächst zurecht um die Ohren fliegen wird.”
“La Triviata – Der Duft der Achtziger” ist keine Zeitreise zu einer alten Perspektive auf das Leben im Kapitalismus, die in der Phase des totalen Überflusses deplatziert und wegen der depressiven Untertöne abtörnend gewirkt haben mag, sondern eingefrorene Systemkritik, die aufgetaut die nötige Klarheit hervorbringt, um die heutigen Verhältnisse nicht infrage zu stellen, sondern sie als völlig untaugliches Modell für die Zukunft zu qualifizieren.
Redaktioneller Hinweis: Das Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger” ist im Verlag p.machinery erschienen und auf der Webseite von Dirk C. Fleck erhältlich. Er wird in den kommenden Wochen ausgewählte Aphorismen aus seinem Werk auf Neue Debatte veröffentlichen.
Illustration und Foto: Dorothe (Pixabay.com, Creative Commons CC0) und Dirk C. Fleck.
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.