Obwohl der Ausdruck in unserem Sprachgebrauch durchaus präsent ist, wird zumeist nicht deutlich, worum es sich tatsächlich historisch handelte. Die Rede ist vom Scherbengericht.
In der griechischen Antike, genau gesprochen in dem Zeitraum zwischen 488 und 415 vor Christus, existierte diese Inszenierung in Athen und anderen griechischen Städten.
Zu einem bestimmten Anlass konnten die Bürger einen Namen auf Tonscherben schreiben, dessen Träger sie aufgrund von schädlichem Verhalten aus der Stadt verbannt[1] haben wollten. Sprach sich die Mehrheit der Versammelten für eine bestimmte Person aus, so musste diese die Stadt für zehn Jahre verlassen. Ihr blieb sowohl der persönliche Besitz als auch alle Rechte.
Innerhalb von zehn Tagen musste die Person dann die Stadt für zehn Jahre verlassen, kehrte sie vorzeitig zurück, so drohte ihr allerdings die Todesstrafe. Die große Anzahl der bisher gefunden beschrifteten Scherben zeugen davon, dass das Scherbengericht in dem genannten Zeitraum eine verbreitete und häufige Institution war.
Manchmal, vor allem bei der immer wiederkehrenden Debatte über die Demokratie, ihre Stärken und ihre Krisen, ist es sinnvoll, sich alle Formen der Entwicklung vor Augen zu führen. Die Sanktion, die auf das Scherbengericht folgte, klingt nur auf den ersten Blick archaisch. Vergegenwärtigt man sich das, was sich in unseren Zeiten Bürger gegen die Gesellschaft erlauben, dann wäre eine solche Sanktion in heutigen Tagen sogar maßvoll und in hohem Maße zivilisatorisch.
Bei dem Ausmaß an Steuervergehen, an Rechtsmanipulation, an ego-gesteuertem Lobbyismus, an Waffenexport, an Wirtschaftsspionage und an der Verlagerung von Umweltzerstörung, wäre ein Akt der Verbannung eine ausgesprochen wirkungsvolle Maßnahme.
Stellen wir uns vor, dass in Formen der direkten Demokratie die Bürgerinnen und Bürger in ihren Städten die Möglichkeit hätten, Zeitgenossen für zehn Jahre zu verbannen, die es einfach mit ihrer Gemeinschaftslosigkeit zu weit getrieben haben. In der Kommune, dem Nukleus der Demokratie, sind sie bekannt. Diejenigen, die ihr Spiel lachend spielen, soweit sie in der Lage sind, heute auch global die Lücken zu finden, die sie brauchen, um ungehindert das zu betreiben, was die Mühen und die Werte derer, unter denen sie leben, verhöhnt und hintertreibt. Und obwohl ein Rechtssystem existiert und obwohl der Grad der betriebenen Willkür bekannt ist, können sie ihre Strategie weiter verfolgen.
Die Bürgerinnen und Bürger, hätten sie die Möglichkeit, wüssten allerdings sehr gut, um wen es sich handelt. Sie hätten mit dem Mittel des Scherbengerichts, das heute ein IT-gestütztes Votum wäre, die Möglichkeit, das Treiben gegen die Gemeinschaft zu ächten und sie aus dem nächsten Umfeld zu verbannen.
Das änderte an deren Treiben zunächst wahrscheinlich gar nichts, es würde diesem Treiben jedoch ein Signet[2] verleihen, das öffentlich wirksam wäre. Überall in der Welt, wo diese Verbannten aufträten, wären die Kommunen vorgewarnt. Sie wüssten, da handelt es sich um Personen, die in ihrer eigenen, heimatlichen Kommune zu unerwünschten Personen erklärt worden sind. Da wäre bekannt, welches Vergehen dazu geführt hat, sie in diesem ursprünglichen Kreis nicht mehr zu wollen. Das wäre weder Lynch- noch Rachejustiz, sondern ein Akt der Abscheu und ein starkes Votum der Autonomie der demokratischen Kommune.
Das ist alles nur ein Gedankenspiel. Jedoch verlangen neue Verhältnisse auch neue oder diesmal alte Wege, um sich wirksam mit einem Phänomen auseinanderzusetzen, das zunehmend um sich greift und, auch das ist festzustellen, sich zu einer Massenerscheinung ausgewachsen hat.
Denken sie einmal darüber nach, was Ihnen in ihrer eigenen Kommune dazu einfällt. Allein diese Übung ist die Überlegung wert.
Quellen und Anmerkungen
[1] Das Scherbengericht (auch Ostrazismus genannt) war vor allem im antiken Athen ein Verfahren, um Bürger mittels Abstimmung und anschließender Verbannung aus dem politischen Leben der Stadt zu entfernen. Als Stimmzettel wurden Tonscherben genutzt, auf die die Teilnehmer der Abstimmung den Namen der Personen einritzten, die verbannt werden sollte. Derjenige, auf den die meisten Stimmen entfielen, wurde verbannt. Im heutigen Sprachgebrauch wird mit dem Begriff ein Verhalten bezeichnet, mit einem Menschen besonders streng oder auch außerordentlich hart ins Gericht zu gehen. ↩
[2] Unter Signet wird ein visuelles Zeichen verstanden. Ursprünglich ist es die Bezeichnung für Drucker- und Verlegerzeichen, mit denen Druckerzeugnisse gekennzeichnet wurden, um die Qualität zu unterstreichen. Heute sind es vor allem Marken und Logos. ↩
Illustration: Willgard Krause (Pixabay.com, Creative Commons CC0).
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Das Scherbengericht“
Die direkte Verantwortung hat einen hohen Reiz, und hätten wir eine Justiz, die nicht nach Standesdünkel urteilt, sondern nach Gerechtigkeit und Sinn, wären wir ihr nicht so überdrüssig.
Die Staatsanwaltschaft in Fürstenfeldbruck in Bayern schafft es, zwei jungen Frauen für Mülltonnen -Diebstahl von Lebensmitteln zu 2.400 Euro Strafe anzuklagen. ..
Der Artikel stößt ein Überdenken unseres Justiz-Systems an. Gewaltenteilung scheint es nirgendwo so richtig echt zu geben. Scherbengerichte wären aber wohl nur in kleinen politischen Einheiten praktikabel. Und auch da zweifle ich an, ob sie mit Gerechtigkeit oder nur mit Stimmungen zu tun hätten.
Im ganzen Justizsystem würde ich der Wiedergutmachung den Vorzug geben. Die Verbannung in die Fremde wäre für die Reichen vielleicht nicht mal so schlimm. Wenn sie aber ein Jahr in die Müllabfuhr oder in Arbeiten in der Kanalisation müssten, wäre das schon anders. Meinetwegen nicht am Heimatort, sondern in der Fremde.
Die Verbindung zwischen den Missetaten und der Strafarbeit müsste aber nachvollziehbar sein.
G.K.
Es ist die heutige Verantwortlosigkeit, die schon von Jugend an das heutige Denken so stark prägt. Fast alle werden als Entschuldigung angeben, leider für das Miteinander keine Zeit zu haben. Die Folge ist, dass alle Leistungen nur dann durchgeführt werden können, wenn dafür Geld zur verfügung steht. Dabei wird heute einfach entschieden, größere Probleme den Nachkommen aufzubürden. Kein Gericht findet bei diesen Raubzügen gegenüber den Nachkommen einen Grund, hier anzuprangern. Nur die direkte Demokratie wird es schaffen, dass alle Bürger, sich kümmern.