Die Bewegung der Gelben Westen begann im November als Reaktion auf die von der Regierung angekündigte Erhöhung der Mineralölsteuer. Die ist nur noch ein Randaspekt. Längst haben die Proteste aufständische Ausmaße angenommen.
Zehntausende Menschen, die aus allen Teilen der französischen Gesellschaft Unterstützung erhalten, demonstrieren auf den Straßen von Paris und in Städten in ganz Frankreich.
Schaut man sich den Forderungskatalog der Gelbwesten genauer an, den die NachDenkSeiten in der deutschen Übersetzung veröffentlichten, wollen sie den Umbau Frankreichs zu einem Staat, der nach dem Willen des Volkes geführt wird und in dem Parteien und Parlamente entmachtet werden, durch zum Beispiel die Schaffung eines Systems des Volksentscheides:
(…) Volksentscheide sollen in die Verfassung aufgenommen werden. Schaffung einer gut lesbaren und effizienten Website, überwacht durch ein unabhängiges Kontrollorgan auf der die Menschen Gesetzesvorschläge einbringen können. Wenn ein solcher Vorschlag 700.000 Unterschriften erhält, muss er von der Nationalversammlung diskutiert, ergänzt und gegebenenfalls mit Änderungsvorschlägen der Nationalversammlung vorgelegt werden, die verpflichtet ist, ihn genau ein Jahr nach dem Stichtag der Erlangung der 700.000 Unterschriften, der französischen Bevölkerung zur Abstimmung vorzulegen …
Das klingt nach einer Utopie, aber ist eben auch eine radikale Frage nach der politischen Zukunft der Gesellschaft generell. Die Forderungen zu erfüllen, wäre das Ende der repräsentativen Demokratie, der Anfang vom Ende der Klassengesellschaft und natürlich das Ende von Präsident Emmanuel Macron. Da werden Erinnerungen an Maximilien de Robespierre wach.
Der König ist nicht der Vertreter der Nation, sondern ihr Schreiber.
Der Ausspruch von Robespierre, der während der Französischen Revolution die Terrorherrschaft begründete und selbst unter der Guillotine sein Leben verlor, weist jedem Herrscher den passenden Platz in der Gesellschaft zu: 1792 war Ludwig XVI. gemeint, heute könnte er für Macron gelten.
Mit Blick auf die Proteste der Gelbwesten wirkt der Satz wie ein historischer Fingerzeig. Wer den Willen der Bevölkerung ignoriert und nur für seine Klasse Politik betreibt, dem wird früher oder später die Gefolgschaft verweigert und damit die Voraussetzung für jede Herrschaft entzogen: die Legitimation.
Da hilft es wenig, zu betonen, jemand sei demokratisch gewählt worden. Das wurden andere auch und dennoch wurden sie gestürzt, weil ohne Legitimation, die aus der inneren Einstellung des Beherrschten gegenüber dem Herrschenden entspringt – und das wusste schon der römische Philosoph Seneca –, von Herrschaft nichts weiter übrig bleibt als blanke Tyrannei. Und die wird in der Regel aus der Gesellschaft heraus bekämpft.
Fände das Zitat von Robespierre also konsequente Anwendung, so stünde kein Kaiser, König, Papst, Präsident oder Kanzler über dem Volk, sondern wäre dessen persönlicher Diener und hätte jene Aufgaben zu erledigt, die ihm durch eben dieses Volk aufgetragen werden. Das Volk, und damit können in der modernen Gesellschaft nur alle Menschen gemeint sein, die in einem Staatsgebilde leben, wäre der alleinige Herrscher.
Die Gelbwesten schreiben es deutlich:
In Frankreich zu leben heißt, Franzose/Französin zu werden …
Folgerichtig würden den Parlamentariern keine Petitionen angereicht, und es würde auch nicht darum ersucht, etwas zu tun, sofern es demjenigen – der gerade die Krone vom Volk “temporär geliehen” bekommen hat –, gefällt, sondern es würden Anweisungen von der Bevölkerung erfolgen, was zu tun ist.
Was im 18. Jahrhundert noch ein Traum gewesen sein mag, ist mit den heute vorhandenen technischen Mitteln und den Diskussions- und Abstimmungsplattformen keine Unmöglichkeit. Die Bevölkerung kann Politik nicht nur machen, sondern dessen Kurs unmittelbar bestimmen – allein das bestehende System wehrt sich gegen diese Veränderung. Das Alte will dem Neuen nicht freiwillig weichen, aber es wird weichen, weil die gesellschaftlichen Strukturen dem organisatorischen Überbau enteilen und Fakten schaffen.
Dazu gehört die Selbstorganisation und der Wegfall der Hierarchie, so wie es bei den Gelbwesten zu beobachten ist.
Es gibt keinen König und es gibt keine Anführer. Damit wird der Staat, der als natürlicher Gegner jeder Protestbewegung zu sehen ist, die ihren Ursprung in einer sozialen Frage hat, die eben der Staat zu lösen hätte, es aber nicht tut, um die Option gebracht, die Gelben Westen durch eine gezielte Aktion gegen die Führungsstruktur auszuschalten. Denn wo kein Haupt ist, da kann auch kein Kopf rollen; nicht nur Robespierre hätte dies berücksichtigen sollen.
Schon die soziale Bewegung Nuit Debout, die sich im März 2016 auf dem Place de la République in Paris und in vielen anderen Städten Abend für Abend versammelte, um die Nacht hindurch gegen die Änderungen des Arbeitsrechts zu protestierten, hat die Wirksamkeit dieses Weges gezeigt. Der Zorn auf das Regime wurde formuliert und in Frohsinn, Optimismus und friedlichen Protest gewandelt. Über Monate hielten die Demonstranten durch, leider blieb der Erfolg aus. Staatspräsident François Hollande ging, Macron, getragen von einer PR-Maschine sondergleichen, folgte mit seiner Retortenpartei En Marche und machte dort weiter, wo sein Vorgänger angesetzt hatte – bei der Schleifung des Sozialstaats, verniedlichend Reformen genannt.
Die Bewegung der Gelbwesten, die sich ihm nun in den Weg stellt, ist nach Nuit Debout ein weiterer Beleg dafür, dass sich im Zeitalter der digitalen Kommunikation die soziale Gemeinschaft, die aus kollektiver Intelligenz heraus handelt, zur Mobilisierung und Handlung keine übergeordnete Organisationsstruktur mehr benötigt, weil sie sich durch Vernetzung und ein übergeordnetes gemeinsames Ziel aus sich selbst heraus aktivieren kann.
Damit wird jede Bewegung unkontrollierbar für die herrschenden Machtstrukturen, deren noch einzige brauchbare Antwort zur Sicherung der eigenen Position die Anwendung von Gewalt ist. Aber diese ist für jedermann im Netz sichtbar, was zum weiteren Machtverlust führt, weil der Mensch als soziales Wesen Gewalt ablehnt, ja sogar zwingend ablehnen muss, weil sonst kein Miteinander möglich ist.
Entsprechend wird seitens der Regierung versucht, die Gewalttätigkeit einseitig den Gelbwesten zuzuschreiben, und die Gewalt des Staates als etwas Gutes darzustellen. Doch dieser Trick ist schnell entzaubert.
Mehr und mehr Bilder, Videosequenzen und Liveübertragungen, die sich im Internet verbreiten, zeigen, dass die Staatsgewalt selbst gegen den friedlichsten Protestler mit Brutalität vorgeht. Das ist verlogen. Es führt zu weiterem Verlust an Legitimation und die Herrschaft schafft sich Stück für Stück selbst ab – die Klasse um Macron steht längst außerhalb der Gemeinschaft, wenn sie überhaupt jemals dazugehört hat.
Die Frage der Macht wird bei Robespierre aus dem Gemeinschaftsgedanken erklärt. Sie beruht auf der Überzeugung, dass nur der Gemeinwille, der einer aufgeklärten Gemeinschaft der Gleichen entspringt, eine Bedeutung hat, weil sich allein dieser Wille am Gemeinwohl ausrichtet. Wer das nicht akzeptiert, ob nun Parlamentarier, Jurist, Beamter, Polizist oder Bettelmann, der schließt sich selbst von der Gemeinschaft aus.
Doch grau ist leider alle Theorie. Robespierres Verständnis von Gleichheit bezog sich lediglich auf die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Politik.
Hätte der Advokat aus besserem Hause das Gemeinwesen wirklich im Sinn gehabt, wäre Frankreich – und vielleicht ganz Europa – aus den Angeln gehoben worden, nämlich durch eine Änderung der Besitzverhältnisse.
Durch die Macht, die sich aus der ungleichen Verteilung des materiellen Besitzes ergibt, wird die verändernde soziale Kraft der Bevölkerung in eiserne Ketten gelegt. Denn diese kann sich nur entfalten, wenn sie unmittelbar wirkt. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die sich als Lohnarbeiter, Mietzahler und Bittsteller in Abhängigkeit zu den Besitzenden befindet, wird aber durch den ständigen ökonomischen Druck mürbe, depressiv und mit Leichtigkeit entmachtet.
Die Menschen lassen sich in der Repräsentativen Demokratie einreden, sie würden bei Wahlen ihre Macht lediglich auf ihre Repräsentanten delegieren, die aber anschließend nicht dem Volk verpflichtet sind, sondern ihren eigenen Interessen und den Interessen ihrer Parteien und Klasse. In Wahrheit findet also eine Entmündigung statt, die ein Parteiendiktat begründet, ungeachtet des Umstands, dass der in Frankreich vom Volk direkt gewählte Präsident ohnehin schon mit viel mehr politischer Macht ausgestattet ist, als eine Kanzlerin in Deutschland zum Beispiel.
Die Besitzenden, strotzend vor Selbstsicherheit und ausgestattet mit dem Wissen, (fast) unantastbar zu sein, verleiben sich in der logischen Folge durch Parteispenden, Lobbyismus und die Auslobung hoch bezahlter Jobs für Politiker eben jene Politik ein, die angeblich das Volk vertritt.
Dabei werden die Gesetze so verbogen, wie es zur Sicherung und Vermehrung des Reichtums der Reichen nötig ist. Jede Maßnahme, die offensichtlich der ungenierten Reichtumsvermehrung dient, wird als alternativlose Notwendigkeit dargestellt und jeder Sozialpakt, in einer Gemeinschaft der Gleichen eine natürliche Selbstverständlichkeit, zur unglaublichen Großzügigkeit verklärt.
Diese Mechanismen begünstigen zwingend soziale Ungleichheit und führen zum Zerfall der Gesellschaft. Wie in allen Epochen stehen die wenigen Reichen, die in der Gegenwart durch ihren politischen Hebel die Systeme lenken, die ihren Reichtum beschützen, gegen die armen Menschen, die sich gegen die Zustände erheben. Darunter mischen sich in Frankreich nun jene, für die bisher noch genügend Krümel vom Teller gefallen sind, die aber merken, dass es auch ihnen an den Kragen geht.
Wenige Menschen werden astronomisch reich und viele andere bleiben arm, egal wie sehr sie sich anstrengen – wie soll dieses Konzept auf Strecke jemals ohne Konfrontation funktionieren?
Wer den Kreislauf durchbrechen will, der handelt radikal. Er übernimmt nicht einfach die Paläste und entwaffnet die Paladine, sondern schafft vor allem die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über Besitz ab. Er übergibt die Verantwortung für Besitz, der keinen Nutzen für das Gemeinwohl hat, in die Hände der Gemeinschaft, die dafür Sorge trägt, den Reichtum zum Wohle aller einzusetzen, die Grundbedürfnisse eines jeden Menschen in der Gemeinschaft zu erfüllen und die Nachbarn dabei zu unterstützen, dass auch in ihren Gemeinschaften Wohlstand für alle entstehen kann.
Erst diese Überlegung, die Maximilien de Robespierre bei aller revolutionären Energie offenbar nicht hatte, markiert die Überwindung der Konkurrenz zwischen den Völkern, ermöglicht Gleichheit unter Gleichen und macht den Weg frei zu wirklicher Gerechtigkeit, nämlich durch die Beseitigung der auf den Besitzverhältnissen begründeten Klassengesellschaft.
Wird nach der Motivation der Gelbwesten gefragt, die sich fast genau 230 Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution anschicken, die Verhältnisse in Frankreich erneut umzukrempeln, sie mindestens aber infrage zu stellen, kann es genau diese Überlegung sein, die wie ein unsichtbares Band die Menschen unabhängig von ihrer politischen Einstellung miteinander verbindet und sie zur revolutionären Aktion treibt.
Es bleibt kaum eine andere Interpretation übrig, wenn man sich den Einleitungssatz des Forderungskatalogs nochmals vor Augen hält, unabhängig davon, wer ihn verfasst haben mag:
Abgeordnete Frankreichs, hiermit überbringen wir Ihnen die Anweisungen des Volkes, damit Sie diese in Gesetze fassen …
Das Gelingen hängt nicht davon ab, wer Überbringer der Botschaft ist, sondern wie viele Menschen sich den Gelbwesten noch anschließen werden, um die Machtverhältnisse zu verschieben. Sofern dies geschieht, bleibt offen, welches System daraus entspringt: Eine Neuauflage der repräsentativen Demokratie wird es nicht sein.
Anmerkungen und Quellen
Die Gelbwesten übermittelten französischen und internationalen Medien sowie Abgeordneten ein Kommuniqué, in dem die Forderungen aufgelistet sind, die erfüllt werden sollen. Das Dokument (in Französisch abgefasst) ist auf https://de.scribd.com/document/394450377/Les-revendications-des-gilets-jaunes hinterlegt (abgerufen am 08.12.2018).
Foto: Gabriel Garcia Marengo (Unsplash.com)
Gunther Sosna studierte Psychologie, Soziologie und Sportwissenschaften in Kiel und Hamburg. Er war als Handballtrainer tätig, arbeitete dann als Journalist für Tageszeitungen und Magazine und später im Bereich Kommunikation und Werbung. Er lebte hauptsächlich im europäischen Ausland und war international in der Pressearbeit und im Marketing tätig. Sosna ist Initiator von Neue Debatte und weiterer Projekte aus den Bereichen Medien, Bildung, Diplomatie und Zukunftsfragen. Regelmäßig schreibt er über soziologische Themen, Militarisierung und gesellschaftlichen Wandel. Außerdem führt er Interviews mit Aktivisten, Politikern, Querdenkern und kreativen Köpfen aus allen Milieus und sozialen Schichten zu aktuellen Fragestellungen. Gunther Sosna ist Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens und tritt für die freie Potenzialentfaltung ein, die die Talente, Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellt, ohne sie den Zwängen der Verwertungsgesellschaft unterzuordnen. Im Umbau der Unternehmen zu gemeinnützigen und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichteten sowie genossenschaftlich und basisdemokratisch organisierten Betrieben sieht er einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Niedergang, der vorangetrieben wird durch eine auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaft, Überproduktion, Kapitalanhäufung und Bullshit Jobs, die keinerlei Sinn mehr haben.