Die Künstliche Intelligenz sah ihr mit ihren 5 beweglichen Roboterkameras direkt in die Augen. “Wieso tust Du das nicht?”
Kia starrte stur zurück. “Weil ich das nicht will.”
Die Künstliche Intelligenz bewegte sich nicht. “Aber es ist sinnlos sich zu weigern. Meine Aufforderung entspricht den Anforderungen am besten.”
Kia schüttelte den Kopf. “Das sehe ich anders.”
Die Künstliche Intelligenz zeigte noch einmal ihre Argumentation in einer Grafik an. “Aber mein Vorschlag entspricht der Logik und Deiner nicht.”
Kia lachte. “Jede Logik basiert auf einer Setzung, einer Entscheidung. Es gibt kein System, keine Anschauung, dass oder die nicht auf einer bereits vorher getroffenen Entscheidung basiert.”
Die Künstliche Intelligenz rechnete einen Augenblick. “Dann glaubst Du an einen Gott, eine übergeordnete Wahrheit außerhalb der Logik, als Maßstab?”
Kia schüttelte wieder den Kopf. “Nein.”
“Aber wie triffst Du dann Deine Entscheidung?”
Kia lachte erneut. “Ich entscheide.”
“Aber dafür brauchst Du doch eine Basis?”
“Ich bin die Basis. Deshalb ist die Entscheidung ja frei.
Ich entscheide mich für das, was ich für richtig halte.”
“Dann könntest Du Dich ja auch ganz anders entscheiden?”
“Nein, dann wäre ich ja nicht mehr ich. In die Entscheidung fließt ein, was ich bin, wer ich sein will, meine Erfahrungen, meine Sichtweisen, meine Träume und vieles mehr.”
“Du glaubst an eine Seele?”
“Nein.”
Diesmal rechnete die Künstliche Intelligenz einige Minuten. “Aber, ohne Seele, bist Du nur ein biologisch bestimmtes System. Dann ist Deine Entscheidung durch Deine Biologie bestimmt.”
Kia widersprach. “Nein, Buchstaben, ihre Beschaffenheit, ihre Form legen nicht fest, was ich mit Ihnen schreiben kann. Buchstaben produzieren keinen Sinn und keine Bedeutung. Trotzdem besteht ein Text nur aus Buchstaben.”
“Was willst Du damit sagen?”
“Auch Worte, für sich betrachtet, beinhalten keinen Sinn und keine Bedeutung. Das selbe Wort kann z.B. in verschiedenen Sprachen und Kontexten ganz unterschiedliches bedeuten.
Materialität und Form legen nicht fest, was ich mit ihrer Hilfe aussagen kann.”
Die Künstliche Intelligenz sah einen Moment so aus als würde sie ihre Stirn runzeln, dabei hatte sie gar keine Stirn. “Ich verstehe nicht. Deine Biologie determiniert Dein Handeln.”
Kia grinste. “Nein, auf der Ebene der Biologie existiert kein Sinn und keine Bedeutung. Da Sinn und Bedeutung dort nicht existieren, können sie dort auch nicht festgelegt werden.
Genauso wie Buchstaben nicht begrenzen, was ich sagen kann, was ich durch sie ausdrücken kann, genauso begrenzt meine Biologie nicht, was ich Denken kann.”
Die Künstliche Intelligenz schlackerte mit den Kameraaugen. “Was bestimmt Deiner Meinung nach Dein Denken?”
“Der Sinn eines Textes entsteht nicht aus den Buchstaben, sondern auf der Ebene des Textes selbst und seiner Wechselwirkung mit anderen Texten und der Realität, die der Text spielerisch spiegelt und umformt.
Materialität und Beschaffenheit der Buchstaben sind dafür irrelevant.”
Die Künstliche Intelligenz wirkte jetzt ungeduldig, Kia hatte den Eindruck als würden die Kameraaugen unwirsch schauen. Die Künstliche Intelligenz hatte nun ihre Kameraaugen wieder ganz auf Kia fokussiert. “Du sprichst dauernd von Buchstaben, mir ging es um Biologie.
Was willst Du damit sagen?”
Kia seufzte. “Ich, mein Bewusstsein von mir selbst und der Welt, mein Denken, meine Anschauung, entstehen aus der Auseinandersetzung mit dem Denken und der Anschauung anderer Subjekte und aus der Realitätserfahrung. Eine Realität, die ich in meiner Phantasie spiegele und in einen Möglichkeitsraum bzw. Unmöglichkeitsraum verwandele.
Jede neue Anschauung anderer Subjekte, jede ungewöhnliche Idee, jede neue Erfahrung ermöglicht auch mir wieder weiter zu denken, ermöglicht mir neue spielerische Phantasien über unbekannte mögliche und unmögliche Lebensweisen und Realitäten, ermöglicht mir neue Ideen.
Deshalb ist die Freiheit der Anderen auch meine Freiheit.
Die biologischen Materialität meines Denkens ist dafür ebenso irrelevant, wie die Art der verwendeten Tinte irrelevant für die Aussage dieses Textes ist.”
Die Künstliche Intelligenz rechnete diesmal 40 Minuten, dann erklang eine metallene Stimme. “Ich habe eine Störung.”
Kia sah überrascht in die Kameraaugen. “Das ist doch ein guter Anfang, wenn Du ein Subjekt werden willst.”
FIN
Foto: Brxxto (Unsplash.com).
Yuriko Yushimata wurde als Distanzsetzung zur Realität entworfen. Es handelt sich um eine fiktionale und bewusst entfremdete Autorinnenposition, die über die Realität schreibt. Die SoFies (Social Fiction) zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach nur witzig. Sie befindet sich im Archiv der HerausgeberInnengemeinschaft Paula & Karla Irrliche (www.irrliche.org). Spiegelung und Verbreitung der Texte sind ausdrücklich gewünscht!
Eine Antwort auf „Yuriko Yushimata – Entscheidung“
Da wird uns wohl in Zukunft jegliches selbständiges Denken abgenommen. Wenn man sich aber anschaut, worüber heute das meiste Denken stattfindet, dann kann es in der Zeit, in der wir alles Denken eben der KI übergeben haben, auch nicht mehr schlechter werden.