Was geschieht eigentlich mit den Maßen, die über lange Zeit die Gewissheit vermittelten, derer es bedarf, wenn der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt alle Dämme des Vorstellbaren einreißt?
Und was macht das mit den Menschen, die durch ihre Kompetenz, durch ihr Handeln und durch ihren Charakter für das Verlässliche einer Epoche standen, wenn das Neue die Gedankenwelt des Alten flutet?
Es sind kluge Fragen und es sind brandaktuelle Fragen, die der niederländische Schriftsteller H.M. van den Brink[1] in einem Roman mit dem Titel Ein Leben nach Maß aufwirft.
Die Handlung ist schnell beschrieben, die Reflexion über das Erlebte eröffnet jedoch das Portal zur Unendlichkeit. Es geht um zwei Männer, die 1961 in das staatliche Eichamt in Nordholland eintraten und dort nach 45 Jahren vor ihrer Verabschiedung stehen. Der eine, Karl Dijk, der wie kein anderer für die alten Gewissheiten und Tugenden steht, soll verabschiedet werden und der andere, der Ich-Erzähler, bekommt von der neuen, jungen Direktorin des ehemaligen Eichamtes, das nun Metrifact heißt, den Auftrag, für sie die Abschiedsrede zu schreiben, die sie anlässlich der Zurruhesetzung Karl Dijks halten will. Was der Ich-Erzähler tut, und was dazu führt, dass die Direktorin die Rede hält, obwohl Karl Dijk selbst zu seiner Abschiedsfeier gar nicht mehr erscheint.
In diesem Rahmen folgen die Reflexionen des Mit-Kollegen. Sie sind brillant erzählt und führen zu einer Reise in die Entwicklung der Wissenschaften wie der Marktwirtschaft.
Der Erzähler berichtet über den Alltag derer, die für das Einhalten des Maßes im richtigen Leben verantwortlich sind. Alles, was sie machen folgt, einem strikten Plan, sie berechnen und sind berechenbar.
Sie treffen draußen in der holländischen Provinz auf eine Welt, in der der kleine tägliche Betrug zum Leben dazugehört. Während die Eichmaße wie Kilo und Meter noch in Pariser Tresoren die Sicherheit eines Jahrhunderts ausstrahlen, betrügen die Metzger und Käsehändler an manipulierten Waagen und mit versteckten Gewichten.
Doch der Markt schreitet voran wie die Wissenschaften. Während in den Supermarktketten mehr und mehr Güter bereits verpackt und gewogen in die Regale kommen, werden die Pariser Unikate, die auch für die große Vereinheitlichung der bürgerlichen Revolution stehen, als Referenzstücke obsolet. Das Eichamt mutiert von einer Kontrollbehörde zu einem sogenannten Marktpartner der wirtschaftlich Handelnden, die Digitalisierung verrichtet den Rest.
Das wenige Persönliche, das der Ich-Erzähler bei seinen Recherchen zu der Abschiedsrede findet, ist vielleicht das Spannendste an der ganzen Geschichte, in Bezug auf eine Beurteilung der handelnden Personen ist es jedoch unerheblich.
Dieser plötzlich verschwundene Karl Dijk wird zu einem Symbol für das Allgemeingültige, das im Laufe der Entwicklung vom individuell Relevanten hinweggeschwemmt wird. Karl Dijk, der unbestechliche Wissenschaftler, der sein Leben der Geltung des Maßes gewidmet hat, verschwindet in der neuen Welt ohne großes Drama. Irgendwann ist er einfach nicht mehr da und niemand vermisst ihn.
Kann das, was wir momentan bezeugen und beklagen, besser beschrieben werden? Mir fehlt das Vorstellungsvermögen.
Quellen und Anmerkungen
[1] H.M. van den Brink (Jahrgang 1956) ist ein niederländischer Journalist und Schriftsteller. Bei Hanser erschien 2000 seine Novelle Über das Wasser und 2018 sein Roman Ein Leben nach Maß. ↩
Illustration: pixel2013 (Pixabay.com, Creative Commons CC0)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „H.M. van den Brink: Ein Leben nach Maß“
Kurze Frage: Warum erhält Frau Grimmenstien für ihre Verfassungsbeshwerde gegen JEFTA nur ca. 8.000 Unterstützer? Ich gebe enien Teil der Antwort: Die meisten Medien beschreiben nur die positiven Seiten dieses Abkommens Die Gefahren für die Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte werden verschwiegen.. Also doch >Lügenpresse??