Eben rief ein Freund an und teilte mir mit, dass er etwas später als verabredet kommen würde, da er sich noch in der Tagesschau informieren wolle, ob der Krieg gegen Libyen ausgebrochen sei.
Ich erinnere mich, dass ich heute Morgen beim Zeitungshändler irgendwo die Schlagzeile »KRIEG?« gelesen hatte. Sie erschreckte mich nicht, sie war nur eine vertraute Grafik.
Im Haus gegenüber löscht jemand die Kerze auf dem Klavier und schaltet den Fernseher ein. Ein Kind tobt um den Tisch. Warum habe ich plötzlich das Bedürfnis, die Menschen in Schutz zu nehmen? Und gegen wen? Angesichts der Tatsache, dass wir in jeder Sekunde gemeinsam von diesem Planeten gefegt werden können, heben sich die Feindbilder auf, sind wir allesamt Staub vor dem Wind.
Der kollektive Tod, das Aus für alle, für Opfer UND Peiniger, für Gerechte UND Ungerechte, für Reiche UND Arme – das ist der Orgasmus, auf den die Geschichte hinausläuft.
Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt der Banalität, der Dummheit, des unnützen Zeitvertreibs, des kleinen Alltags?
Ganz einfach: weil es ihn noch gibt, den kleinen Alltag. Er ist meine Heimat, mein Leben. Zwar ist bereits die Lunte an ihn gelegt worden und nichts von ihm wird übrig bleiben, aber er atmet noch. Noch sind in ihm alle Missverständnisse geborgen, noch wird in ihm gelogen und betrogen, gehasst und manchmal sogar geliebt. An Tagen wie diesen reicht das aus, um mit ihm Frieden zu schließen. Um die Wunden zu kühlen, die ich mir im Umgang mit ihm bisher zugezogen habe.
An Tagen wie diesen liebe ich unser aller Entsetzen in meiner kleinen Straße, in der sich jeden Abend zur Tagesschau der Widerschein aus den Fernsehapparaten in den Zweigen der kranken Kastanien bricht.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Dirk C. Fleck ist einer von 258 Gedanken aus seinem Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger”. Er schrieb sie vor 33 Jahren auf und veröffentlichte sie erst 2018 im Verlag p.machinery. Mehr Informationen zum Buch und über den Autor gibt es auf der Webseite von Dirk C. Fleck.
Foto: Fausto García (Unsplash.com)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „“Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt der Banalität …”“
Fleck – ein Spitzenautor – ein Mensch mit Tiefgang – ein Denkender – Verteidiger und Ankläger – ein Guter!!!!!