Das bürgerliche Zeitalter drehte sich immer um die Individualisierung. Es ging um die Vervollkommnung des Einzelnen, im Hinblick auf seine Fähigkeiten wie seine Bedürfnisse.
Es handelt sich dabei um ein europäisches Modell der Neuzeit und nicht um ein universalistisches Prinzip, das von der Geschichte abgekoppelt ist.
Berühmt bleibt der Satz des Chinesen Tschou En-Lai[1], der davor warnte, schnelle Schlüsse hinsichtlich des Projektes der bürgerlichen Revolution zu ziehen, denn das Ganze läge erst zweihundert Jahre zurück und eine Beurteilung sei etwas vorschnell.
Als Chinese hatte er mit diesem Zeitraster zweifelsohne Recht; Europäer oder Amerikaner halten eine derartige Historisierung für weltfremd. Was bleibt, ist die Frage, ob die Individualisierung mehr Glück in die menschliche Existenz gebracht hat. Denn das war das Ziel: Freiheit und Glück.
Das Projekt der bürgerlichen Individualisierung erfährt allein schon dadurch eine Relativierung, als dass es in vielerlei Hinsicht schlicht um eine Metapher und nicht um eine tatsächliche kollektive Existenz ging. Im bürgerlichen Individuum wurde die Fähigkeit des einzelnen, kompetenten und produktiven Menschen gesehen, der in der Lage sein sollte, fern von den Zwängen der feudalen Ordnung auf einem weit agierenden Markt seine Individualität und alles, was daraus resultierte, zu vermarkten und zu einem ökonomischen Prinzip zu machen. Das gelang einem Teil der Kaufleute und zu einem Großteil den späteren Fabrikbesitzern.
Diejenigen, die nicht über den Status des bürgerlichen Besitzes verfügten, das heißt diejenigen, die weder Maschinen noch Lagerhallen besaßen, hatten dort im Auftrag der Besitzer zu arbeiten. Ihre Individualität blieb immer nur ein Rechtszustand, real im Sinne wirtschaftlicher Rendite war er nie.
Das Absurde an der kurzen Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist die immer schnellere Wiederholung des Mantras, mit dem Ziel, aus seiner ursprünglichen Aussage einen Massenzustand zu machen. Was das heißt?
Der Individualismus wird nicht als reale Existenzform eingelöst, sondern als Kollektivsymbol vermarktet. Der viel gepriesene Individualismus dient lediglich als Label, um die Illusion zu verkaufen, das einzelne Individuum sei kurz vor dem Ziel. Was es in der Realität jedoch nicht ist. Der Vorzug, der in diesem Vermarktungsmechanismus liegt, besteht einerseits im Verkauf der Idee und andererseits in der Verhinderung von Zusammenschlüssen von Menschen in gleicher Lage.
Das Vertreten der eigenen Interessen im Verbund mit anderen Betroffenen kann unter dem Label der Individualität nicht stattfinden, weil jedes Bekenntnis zu einem interessengeleiteten Kollektiv wie ein Verrat an der Freiheit des Einzelnen erscheint.
Der jetzige Zustand des bürgerlichen Individualismus ist zu einer mächtigen Fake News degeneriert, weil die Uniformität der Einzelnen nie größer war als auf dem heutigen Massenmarkt der Globalisierung.
Alles, was noch die Note der Individualität hätte beflügeln können, ist von einem sich rasend schnell reproduzierenden Markt verschlungen. Alles, was die Bedürfnisse des einzelnen Menschen befriedigen soll, ist global gleichgeschaltet. Historische, ethnische, kulturelle und sprachliche Diversität ist ersetzt durch Marktstandards in Ware, Sprache und Verhalten.
Das große Ziel der individuellen Vervollkommnung hat sich zu einer Orgie der Standardisierung entwickelt, in der bestimmte Serien produziert werden, die eine immer kürzere Halbwertzeit auf dem Markt haben. Freiheit und Glück sind im Massenpulsschlag nicht zu haben, wer danach strebt, dem bleibt nur die Eremitage [2].
Für eine Gesellschaft als Modell ist das zu wenig. Für ein Kollektiv, das dennoch eine individuell akzeptable Zukunft anstrebt, auch.
Quellen und Anmerkungen
[1] Tschou En-Lai (auch Chou En-Lai, 1898-1976) war ein Führer der Kommunistischen Partei Chinas und Premierminister der Volksrepublik China von 1949 bis zu seinem Tod 1976. Tschou En-Lai war langjähriger Mitstreiter von Mao Zedong und galt innerhalb der revolutionären Bewegungen, aber auch bei seinen politischen Gegnern, als wichtiger intellektueller Kopf der Kommunistischen Partei Chinas. ↩
[2] Der Begriff Eremitage stammt aus dem Französischen (frz. “ermitage”) und bedeutet wörtlich Einsiedelei. ↩
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Freiheit und Glück“
Endlich mal Ansatz einer sachlichen Einordnung der Westlichen Wertvorstellungen.
Die Idee der “individuellen Vervollkommnung” an sich ist ja das “menschlichste” überhaupt. Es ist auch weniger eine “Idee” als eine uralte Erkenntnis über den eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens. Aber der Materialismus hat diese einfache und ursprüngliche Erkenntnis schon lange überdeckt. Anstatt sich zu vergeistigen, wie es unserer Art als höchst entwickelte, weil komplexest veranlagte eigentlich verlangt, hat sich die Menschheit immer mehr “verfleischlicht”. Dass diese Zielsetzung die Verkehrte war, zeigt sich jetzt immer noch greller und deutlicher am Zustand unserer Welt.
Der anerzogene Egoismus trägt stark zu der heutigen Denkweise bei. Schon in der Schule werden alle Aktionen der Schüler benotet. Leider ist auch jede Demut vor den Vorfahren abhanden gekommen, sodass deren Vorstellungen vom Miteinander völlig abhanden gekommen sind. So hat das heutige Konkurrensdenken jegliches Gemeinschaftsgefühl unterdrückt. Alles kann nur noch danach bewertet werden, wieviel Geld sich dahinter verbirgt.