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Die Fliege

“In diesen Augenblicken kann ich ihr meinen Finger reichen und sie wird sich an den Mund führen lassen, damit ich ihr die Flügel küsse.”

Seit einer Woche wohnt eine kleine Fliege bei mir. Wir mögen uns. Sie gewann meine Aufmerksamkeit, indem sie drei Tage an meiner Seite blieb, ohne penetrant zu werden.

Wenn ich eine Pflanze begoss, saß sie wie zufällig im Blätterwerk, schaute ich in die Küche, erwartete sie mich auf dem Silberrahmen, der sich um Rita Hayworth schließt, suchte ich Musik aus, hockte sie erwartungsfroh auf der Box, und wenn ich arbeiten wollte, lief sie im respektierlichen Abstand über meinen Schreibtisch.

Inzwischen sitzt sie mit Vorliebe auf den noch unbeschriebenen, aber bereits eingespannten Bögen, bis sich meine Gedanken soweit formuliert haben, dass ich sie in die Maschine geben möchte. Bevor der Reflex meine Fingerspitzen erreicht, räumt sie das Feld.

Besonders gerne leistet sie mir beim Lesen Gesellschaft. Sobald ich ein Buch in der Hand halte, betritt sie meinen Körper, geradeso, als sei es ihr endlich gestattet, sich in einer Landschaft zu ergehen, die ihr normalerweise verschlossen bleibt.

In diesen Augenblicken kann ich ihr meinen Finger reichen und sie wird sich an den Mund führen lassen, damit ich ihr die Flügel küsse. Unsere Zärtlichkeit ist zerbrechlich, aber wir haben einen Weg gefunden, sie gefahrlos zu genießen.

Gestern blätterte ich in den Schriften von Michaux. Sie verharrte neben dem Buch in Lauerstellung. Als ich eine weitere Seite gewendet hatte, sprang sie (ja, sie sprang!) in das Buch hinein und von dort auf meine Schulter. Ich las, dass wir Menschen unsere Zuneigung und Ignoranz gegenüber Tieren alleine an ihrer Größe festmachen. So hätte beispielsweise ein Hund weit mehr Chancen, als Persönlichkeit anerkannt zu werden, als eine Fliege …

Eben lud sie mich am Küchentisch zu einer kleinen Privatvorstellung ein. Auf dem Programm standen ein Handschlag mit Überschlag und das lustige Krümelspringen.

Letzteres geht so: man schlendere gelangweilt über das Wachstuch, bleibe verdutzt vor einem fetten Krümel stehen, um ihn sodann mit einem Bocksprung zu überwinden. Dann drehe man zu Fuß eine kleine Schleife und wiederhole das Ganze so lange, bis dem Ehrengast vor Lachen die Suppe vom Löffel tropft.

Ich möchte bemerken, dass meine grazile Freundin nicht in die Töpfe schaut, solange ich zu Abend esse. Im Übrigen bitte ich jeden Besucher, nicht nach ihr zu schlagen. Es gibt so viele unbedachte Handlungen, die uns Menschen nichts und anderen den Tod bedeuten.


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Dirk C. Fleck ist einer von 258 Gedanken aus seinem Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger”. Er schrieb sie vor 33 Jahren auf und veröffentlichte sie erst 2018 im Verlag p.machinery. Mehr Informationen zum Buch und über den Autor gibt es auf der Webseite von Dirk C. Fleck.


Foto: Gustavo Centurion (Unsplash.com)

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Eine Antwort auf „Die Fliege“

Ich kenne diese Geschichte schon aus dem KenFM-Forum, wo ich übrigens als “Veganislove” bezeichnenderweise gesperrt wurde. Schon damals wollte ich dazu etwas von einer Fliege erzählen, das tue ich jetzt hier:
Bei einem Freund zu Gast wurde ich von ihm gebeten, mir an seinem geöffneten Zimmerfenster etwas kurioses anzusehen. Er hatte es schon lange schließen wollen, aber eine kleine Stubenfliege, die direkt vor dem rechten Fensterflügel sass, hatte ihn bis dato daran gehindert. Er führte mir das folgendermaßen vor: Jedesmal, wenn er den Fensterflügel begann, ein kleines Stückchen in Richtung Schliessung -also in Richtung Fliege- zu bewegen, flog die Kleine nicht etwa weg, sondern gab mit einem ihrer Beinchen energisch stampfend ein Signal in Richtung Fensterflügel, um klar zu stellen, dass sie das strickt ablehne und dort sitzen bleiben wolle. Wenn ich das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es wahrscheinlich gar nicht glauben können. Vielleicht war die kleine Fliege ja auch ein bisschen größenwahnsinnig? Hat sich damit an diese zivilisierte Menschheit angepasst?

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