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Rezension

Über die Tiefe der Seele und das Surfen auf der Oberfläche

Was ist es, das allem die Seele raubt? Alessandro Baricco geht der Frage in “Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur” nach. Mit einer Sequenz über die Bedeutung einer Frikadelle in der Verwertung der Globalisierung gelingt ihm ein genialer Wurf. Eine Rezension.

Was ist es eigentlich, was die Globalisierung und die mit ihr verbundenen Prozesse dem Leben, der Zivilisation und der Kultur uns bringen? Oder anders herum, eine hierzulande weitaus öfter gestellte Frage: Was ist es eigentlich, das diese Entwicklung uns raubt?

Wahrscheinlich handelt es sich um die spannendsten Fragen des Hier und Jetzt, und mit Sicherheit sind es die am schwersten zu beantwortenden, weil, wenn überhaupt, vieles noch nicht oder nicht genug sichtbar ist.

Der italienische Autor Alessandro Baricco[1] hat die Courage besessen, sich diesen entscheidenden Fragen zu stellen.

Er konnte dieses tun, weil er sich zum einen zu Walter Benjamin bekannte, der sich nie zu fein war, das Profane zu analysieren und der immer mit dem Auge der Prognostik auf seinen epistemologischen[2] Spaziergängen unterwegs war. Und er konnte es, weil er sich in die Druckkammer einer Zeitungsserie stellte, bei der jede Woche geliefert werden musste, und sowohl Raum und Zeit klar definiert sind.

Das Produkt ist nun ein Buch mit dem wunderbaren Titel Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur. Mit dem Titel greift Baricco jenes Unbehagen auf, dessen sich viele – vor allem in Zeiten intellektueller Tiefen – Sozialisierte bemächtigt hat.

Mit einer beängstigenden Spürnase widmet sich Baricco zunächst dem Wein, dann dem Fußball und letztendlich der Literatur und stellt die Frage der Fragen: Was ist es, das allem die Seele raubt? Denn das ist der Vorwurf, der im Raum steht und das ist die Bewegung, die vielen den Angstschweiß in den Nacken treibt.

Die Quintessenz der überaus gelungenen Analyse ist bestechend: Das globalisierte Verwertungssystem standardisiert und beschleunigt die Prozesse. Von der Tiefe geht es in die Fläche, von der Mühe zu einem Prozess des Surfens auf der Oberfläche. Es geht nicht mehr um die Mühe, den Inhalt, den Spirit, die Seele von etwas mit einem eigenen Charakter und mit einem autonomen Sinn zu erschließen, sondern es geht darum, wie einzelne Prototypen sequenziell sinnvoll eingeordnet werden können.

Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er nicht in das Lamento all derer fällt, die den globalisierten Verwertungsprozess für den Sinnverlust verantwortlich machen.

Obwohl er der These nicht widerspricht, erhält er sich die Neugier, was der gewaltige, standardisierende und beschleunigende Prozess wohl noch an Positivem hervorbringen könne. Vielleicht, so seine Spekulation, ist es auch eine intendierte Abkehr von einer Kultur, die auch verantwortlich ist für die desaströsen Kriege und Diktaturen des XX. Jahrhunderts. Eine Seele, die das hat hervorbringen können, sollte nicht für sich reklamieren, ein Wert an sich zu sein. Die Dialektik der Aufklärung lässt grüßen!

Wem das alles zu abstrakt erscheint, der lese das Buch, vor allem die Sequenz über den Hamburger, sprich die Frikadelle und ihre Bedeutung in der sequenziellen Verwertung der Globalisierung. Dort wird sehr deutlich, was Alessandro Baricco meint. Es ist ein genialer Wurf! Besser auf den Punkt gebracht habe ich die Entwicklungstendenzen der Globalisierung noch nirgendwo gefunden!

Und: Ich bin kein Influencer.

Ich lasse mir das Recht nicht nehmen, über gute Bücher zu schreiben und meine Meinung dazu kundzutun. Es handelt sich um eine originäre bürgerliche Freiheit. Und keine bürokratische Motte wird mir diese Freiheit rauben!


Quellen und Anmerkungen

[1] Alessandro Baricco ist ein italienischer Schriftsteller und Journalist aus Turin. Er studierte Philosophie und Musikwissenschaft und schloss sein Studium 1983 mit einer Arbeit über Theodor W. Adorno ab. Es veröffentlichte Texte auch über Walter Benjamin, Gioachino Rossini und die Neue Musik. Sein Roman Seta wurde ein Weltbestseller. Unter anderem veröffentlichte er die Romane CitySenza, Sangue und Questa Storia.

[2] Der Begriff der Épistémologie wird synonym für Erkenntnistheorie verwendet. Sie ist ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen befasst. Als Begriff für eine spezifische Richtung wird Epistemologie in der Wissenschaftsforschung genutzt, die analysiert, was Wissen überhaupt zu wissenschaftlichem Wissen macht.

[3] Influencer ist ein um 2007 entstandener Begriff für eine Person, die aufgrund ihrer starken Präsenz und hohen Ansehens in den sozialen Netzwerken eines kommerzialisierten Internets für Werbung und Vermarktung in Frage kommt.


Illustration: Thomas Skirde (Pixabay.com, Creative Commons CC0).

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Über die Tiefe der Seele und das Surfen auf der Oberfläche“

Vielen Dank für den Literatur-Tip. Ich habe sowieso ein Faible für die Italiener. Habe noch ein paar andere Besprechungen des Buches “Die Barbaren” nachrecherchiert. Was mich jetzt nur daran stört, ist die Wahl des Titels. Das Wort “Barbaren” wird zwar heute allgemein nur als etwas Negatives, ungehobelt Zerstörerisches gebraucht, aber sein Ursprung stammt aus der Zeit der Eroberungskriege der Römer und bezeichnete damit die bärtigen Germanen. Das, was aber heute die Kulturen zerstört, ist in keiner Weise gleich zu setzen mit einem ursprünglichen bärtigen Waldvolk, das sich tapfer gegen eine angreifende Übermacht gewehrt hat. Aus diesem Grund möchte ich diesen Ausdruck “Barbaren” heute genauso wenig mehr benutzen wie die vielen Schimpfwörter aus der Tierwelt oder die Verherrlichungsworte aus den Kriegen, wie z.B. “Bombenwetter” oder “Granate”.

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