Als man mir die ersten Informationen über das Dritte Reich verabreichte, hatte ich bald den Wunsch, für einige Stunden in den deutschen Alltag von 1937 eintauchen zu dürfen.
Ich wäre zu gerne einmal unter jenen Menschen gewesen, die die Katastrophe zu verantworten hatten, da sie sie nicht verhindert haben. Ich wollte ihnen in die Augen schauen, um die Schuld herauszulesen, die sie gerade auf sich luden.
Ironischerweise lebe ich heute in einer Gesellschaft, die eine sehr viel weitreichendere Schuld anhäuft, als es das Höllenspektakel unter Hitler war. Wir haben die Endlösung parat!
Die Geschichte braucht nur noch zu wählen zwischen Atomkrieg, Klimakollaps, Nullnatur, Überbevölkerung, Seuchen und Faschismus. Sie wird sich bald entschieden haben, ich rechne eigentlich stündlich damit. Andere übrigens auch.
Weder für die Wissenschaft, noch für die Wirtschaft, die Politik oder die Medien ist es ein Geheimnis, dass wir am Ende sind. Der Tanz auf dem Vulkan wird immer heißer.
Im Angesicht des Untergangs setzen wir alles auf Gewinn. Der kleinste Appell an die Vernunft wird gierig im Keim erstickt.
Könnte man uns überleben, wären wir für unsere Nachkommen die »Autofahrer«. Dieses Schimpfwort träfe auf uns alle zu und es würde alles über uns aussagen. Die »Autofahrer« bewegten sich gelangweilt von A nach B und opferten dafür Luft und Boden …
Wie ist der Ausdruck in unseren Augen? Abwesend, in Fett gestrichen. Nur an den Tankstellen blitzt unser verhängnisvoller Fanatismus durch. Von Schuldgefühlen keine Spur, das kann ich bezeugen. Im Gegenteil, unsere Gesichter sind Aushängeschilder der einvernehmlichen Aktion Fortschritt.
Meine Tage sind nichts als eine zitternde Erwartung vor dem Knall.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Dirk C. Fleck ist einer von 258 Gedanken aus seinem Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger”. Er schrieb sie vor 33 Jahren auf und veröffentlichte sie erst 2018 im Verlag p.machinery. Mehr Informationen zum Buch und über den Autor gibt es auf der Webseite von Dirk C. Fleck.
Foto: Sylvie Tittel (Unsplash.com)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
4 Antworten auf „Zitternde Erwartung“
Die Geschichte wird nicht wählen, der Mensch ist es der wählt. Die gleichen Menschen, die die Katastrophe im 3. Reich heraufbeschworen, oder bei Hiroshima zuguckten, sich im Vietnamkrieg verheizen liessen, oder bei der Atommüllverklappung wegsahen, oder…
Die Masse schaut immer nur zu, weil die Masse zu träge ist. Aber jeder einzelne kann etwas tun, jeden Tag! Viele einzelne können die Masse infiltrieren. Es war ein/zwei einzelne(r) der/die die Gelbwesten mobilisierte.
Deshalb ist Resignation nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern erzeugt genau den Ausdruck in den Augen, um die eigene Schuld zu vertuschen, wenn es dann knallen sollte.
Dirk C. Fleck ist auch hier wieder einmal für mich eine Dosis geistige Frischluft in dem allgemein miefigen Probleme-Hin-und-her-Wälzen und den ebensolchen Zwangsoptimismen, mit denen sich der ganze traditionelle Gedankenmüll nur immer noch weiter im Kreise dreht. Das schlimmste Vergehen dieser Zivilisationsmenschheit ist für mich allerdings nicht erst das Autofahren. Das Schlimmste und folgenschwerste hat schon ganz woanders begonnen. Ja, wir erwarten jetzt zurecht die nächste Form der Sintflut. Und der Gedanke, dass uns nichts erspart bleibt, hat tatsächlich etwas beruhigendes, wie Dirk auch einmal schrieb, denn es ist das einzige, was wir sicher wissen.
Wir könnten ja auch einmal echte Optimisten sein, und glauben, dass jede echte Veränderung das Leben aller nur verbessern kann. Wir dürfen einfach nicht im augenblicklichen Zustand verharren. Meines Erachtens haben wir uns in wichtigen Denkweisen verrannt, die einer Veränderung bedürfen.
Ja, es geht um eine echte geistige Neugeburt – an der Spiessigkeit und dem Traditionalismus geht die Welt unter- erstickt das Leben.