Wir waren zu dritt im Abteil, die Frau, der Mann und ich. Die Frau sah mich unentwegt an, ihre Lippen bewegten sich wie zum Gebet. Der Mann öffnete seinen Aktenkoffer auf den Knien und wühlte mit tief hängendem Kopf in seinen Unterlagen. Hinter ihm prangte der dezente Anschlag eines Beerdigungsinstituts.
Mir kam der Gedanke, dass die Summe der Bilder, die wir wahrnehmen, nicht unbedingt zu mehr Wissen führt. Das in jedem Augenblick anschwellende Erfahrungspotenzial berührt im Zuwachs nur noch mehr von der Sphäre des Nichtwissens, ähnlich einem Luftballon, der im aufgeblasenen Zustand ja auch mehr Berührungspunkte hat.
Der Mann hob den Kopf, seine Augen, die mich durch dicke Brillengläser fixierten, bohrten ihren toten Gruß in mich hinein. Ich fand kein Gegengift.
Das Neonlicht umspülte mich wie ätzende Säure; bald war die Verbindung zwischen Gehirn und Gliedern unterbrochen. Meine zur Schau gestellte aufrechte Haltung war das Ergebnis einer ungeheuren Anstrengung, unter der die Fäden des Nervensystems zu zerreißen drohten.
Fassungslos registrierte ich, wie ich um das schwarze Loch meiner Schwäche kreiste, die jeden aufkommenden Gedanken gierig verschlang.
Im Gesicht meines Gegenübers wuchs ein grob gemeißeltes, schräges Grinsen heran. Ich hatte meine Identität verloren, ich kannte weder meinen Namen, noch wusste ich, wohin wir fuhren oder wo ich wohnte.
Ich lehnte die Schläfe an die Fensterscheibe, ihr kühler Stempel gab mir Halt.
Nicht denken! Hör auf zu denken …! Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Fahrgeräusch, in meinem Kopf wirbelten die Bilder einer Stadt auf. Kinder hockten apathisch zwischen gigantischen Scherbenhaufen. Zerrissene Pappkartons wirbelten durch die Straßen. Menschen mit Handwagen zogen stumm aneinander vorbei, sie beachteten die Leichen nicht, die auf den blutverschmierten Gehwegen lagen.
Plötzlich spritzten die Bewohner auseinander, sie versteckten sich in Hauseingängen, hinter Trümmern oder in der Kanalisation. Kurz darauf schlenderten zwei blonde Männer in schwarzen Uniformen die Straße herunter, sie scherzten miteinander wie auf einem Sonntagsspaziergang. Vor der unbekleideten Leiche eines jungen Mädchens blieben sie stehen. Während der eine mit der Stiefelspitze gegen ihre Brust stieß, zog der andere seine Pistole und feuerte auf das letzte intakte Fenster in dieser Stadt.
Gelangweilt setzten sie ihren Weg fort. Hinter ihnen hoben sich die Gullydeckel … Ich riss die Augen auf.
DAS IST DIE LÖSUNG!, stand auf einem Plakat.
Mein Name ist Dirk Fleck, ich bin ein Kind der Hölle. Hier trägt man den Filter des Vergessens im Gesicht, das ist Pflicht.
Der Mann mit dem Aktenkoffer war verschwunden, die Frau auch. Stattdessen saßen mir nun zwei ältere Herren gegenüber. Sie lasen die gleiche Zeitung. »Kunze ist frei«, sagte der eine und setzte die Sonnenbrille auf.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Dirk C. Fleck ist einer von 258 Gedanken aus seinem Buch “La Triviata – Der Duft der Achtziger”. Er schrieb sie vor 33 Jahren auf und veröffentlichte sie erst 2018 im Verlag p.machinery. Mehr Informationen zum Buch und über den Autor gibt es auf der Webseite von Dirk C. Fleck.
Foto: Lucas Lenzi (Unsplash.com)
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).