Den Dompteuren der Macht entgleiten langsam die Zügel der Kontrolle: Ihr Lieblingsrezept für eine individuelle Gleichschaltung und die Simulation einer trügerischen Harmonie gesellschaftlicher Widersprüche will ihnen nicht mehr gelingen. Die Stimme des Gewissens erhebt sich – in Form der “Gelbwesten”. Warum das so ist, weiß etwa der Philosoph Herbert Marcuse.
“Die Tatsache, daß sie anfangen sich zu weigern das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, das den Beginn des Endes einer Periode markiert.”
So beendet Herbert Marcuse [1] seine Analyse “Der eindimensionale Mensch” aus dem Jahr 1970. Dieser Satz scheint in Anbetracht der französischen „Gelbwesten“ aktueller denn je zu sein. Die Stimmen gegen eine Leistungsgesellschaft der Normopathie [2, 3] werden immer lauter. Nicht mehr das normal angepasste, überkonforme und überkorrekte Verhalten des Normopathen soll als Leistungsmaßstab fungieren, sondern die individuelle Leistung. Nicht mehr das Diktat der Masse allein soll richtungsweisend sein, sondern auch das Diktat des Subjekts. Nicht mehr das Kollektiv soll etwas bedeuten, sondern auch das Individuum. Das bedeutet: Individuelle Leistung muss sich wieder lohnen, nicht individueller Konformismus gepaart mit Kadavergehorsam.
Nach Marcuse leben wir in einer totalitären Gesellschaft
Diese Entwicklung zur Gleichschaltung kann als Konsequenz eines gewissen Leistungstotalitarismus unserer Gesellschaft angesehen werden, in der der Erwerbsarbeit ein zentral-identitätsstiftender Charakter zukommt mit dem Anspruch eines auf Gedeih und Verderb (!) menschlichen Grundbedürfnisses. Marcuse schreibt hierzu:
Doch diese Art der bürgerlichen Domestikation zum braven, unterwürfigen und arbeitswütigen Zirkusbürger und somit der Unterdrückung subversiver Gedanken und Einstellungen gegen die Gesellschaft, hält – wie auch die “Gelbwesten” in Frankreich zeigen – immer weniger stand. Die „Gelbwesten“ sind eine seit Ende Oktober 2018 “von unten” gebildete Protestbewegung, die offen ihren Unmut gegen die Politik Emmanuel Macrons bekundet anstatt dieser tatenlos zuzusehen.
Der domestizierte Arbeitshörige zersprengt nach und nach seine durch die Gesellschaft auferlegten Ketten des ökonomischen Zwanges und hiermit verknüpfter sozialer Erwartung. Seine psychologische Struktur kann und will die fehlgeleiteten Entwicklungen einer sich selbst entfremdenden Gesellschaft nicht mehr ertragen. Zu sehr weicht seine Lebenswirklichkeit von der medial vermittelten Wirklichkeit ab, zu sehr klaffen seine vor Jahrzehnten künstlich auf Gleichschaltung erzeugten Bedürfnisse und der gesellschaftliche Imperativ eines Selfmade-man auseinander.
Psychologen sprechen hier von einer kognitiven Dissonanz [4]: Wahrnehmungen, Meinungen oder Überzeugungen (allgemeiner gesprochen: Kognitionen) stimmen nicht überein und verursachen ein unangenehmes Gefühl. Dieses kann mittels dreier Möglichkeiten reduziert werden:
- (1) Eine Person verändert ihr Verhalten, sodass diese zu ihrer Kognition passt,
- (2) sie verändert ihre Kognition, um ihr Verhalten zu rechtfertigen oder
- (3) sie ergänzt ihre bestehende Kognition um weitere.
Grundsätzlich ist es für die meisten Menschen aber einfacher ihre Gedanken, Meinungen oder Überzeugungen zu ändern, während alte Verhaltensweisen – entstanden aus Erfahrungen, geprägt durch Sozialisation und tief eingebrannt in die Verhaltensstruktur – weiter fortgeführt werden.
Die “Gelbwesten” sind die Stimme des Gewissens in einer entfremdeten Gesellschaft
Dies ist etwa bei den “Gelbwesten” nicht mehr der Fall. Sie zeigen, dass der Leidensdruck einer ganzen Bevölkerungsgruppe schon länger im “Dissonanzkessel” brodelt, dem ein Ventil fehlt, um ausreichend Dampf abzulassen. Der Deckel des Kessels ist nun explosionsartig (für empathielose Außenstehende zumindest) in die Luft geschleudert worden.
Dieses rebellische, an einen Jugendlichen erinnernde und aus der Masse hervorstechende Verhalten verdeutlicht zugleich das Aufflammen autonomen, wertgeladenen Denkens infolge eines durch die Gesellschaft vermittelten gewissenlosen Wertesystems. Die “Gelbwesten” fungieren als die unterdrückte gesellschaftliche Stimme des Gewissens. Marcuse erkennt:
Ist es nicht eine Untat, dass etwa Produktionsfehler, Krankheiten oder prekäre Arbeitsverhältnisse grundlegend und notwendig für das Funktionieren unseres Systems sind? Ist es nicht eine Untat, dass diese Gegebenheiten als unabänderlich dargestellt werden, sowie deren Notwendigkeit für den gesellschaftlichen Frieden?
Sprache als Herrschaftsinstrument zur Gleichschaltung des Denkens
Der Sprache, oder genauer gesagt ihrer Funktionalisierung, kommt nach Marcuse in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle zu. Ihre Funktion hat sich grundlegend verändert. Statt der Wahrheit oder der Erkenntnis nahezukommen, soll das Wort nur etwas bewirken. Es soll das Gegenüber bewegen und zum Handeln bringen – nicht mehr und nicht weniger.
Marcuse versteht somit Sprache als ein Herrschaftsinstrument, das die Massen gleichschalten und ruhigstellen soll.
Je konformer das Subjekt, desto leichter seine Manipulation in die gewünschten Bahnen. Deswegen besteht auch das Interesse der Machthaber in einer interindividuellen Gleichschaltung und einer Auslöschung der individuellen Flamme. Schließlich ist ein gedanklich und emotional stubenreines Zirkustier leichter zu führen als ein herumstreunendes.
Deswegen gehört für die wirtschaftlichen und politischen Machthaber als Lieblingsspeise auf den Tisch ein Rezept für ein Individualitätssedativum, das besteht aus
(1) Funktionalisierung, (2) Vereinheitlichung und (3) Sprachverkürzungen.
Et voilà! Fertig sind eine “antikritische und antidialektische Sprache” und “die Sprache des eindimensionalen Denkens”.
So kann Sprache
Doch im Sinne Marcuses muss das Sprachrezept aus Aktualitätsgründen noch um eine weitere Zutat ergänzt werden, nämlich der politischen Korrektheit. Statt sich dem Inhalt von Begriffen zu widmen, konzentrieren sich ihre Verfechter auf deren Form. Formen jedoch sind nur Gewänder. Ein neues Gewand macht niemanden zu einem (selbständig) denkenden und besseren Menschen.
Sprachwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von der Euphemismus-Tretmühle, die als Hypothese erstmals vom US-amerikanischen Psychologen Steven Pinker [5] benannt wurde. Auf den Punkt gebracht: Ein schöner Begriff macht noch keinen schönen Gedanken aus. Schließlich bedarf es neben der Körperpflege auch einer Geistespflege. “Mens sana in corpore sano”, wussten bereits die alten Römer.
Ebenso wussten die Griechen der Antike, dass die Vernunft ein Erkenntnisvermögen darstellt mithilfe dessen man unterscheidet, was wahr und was falsch ist. Hierzu gehören Unterschiede und das Aushalten dieser. Denn erst Differenzen machen das Wirkliche aus. Doch diese auf Unterschieden aufbauende Wirklichkeit ist mit unserer instrumentellen, ganzheitlichen Logik, die auch eine psychologische Gleichschaltung unterstützt, unvereinbar.
Das heute verbreitete, vor allem wissenschaftliche Denken, definiert sich durch seinen instrumentellen Charakter. Einerseits im Gewand einer totalen Fixierung eines Datensammelsuriums, andererseits als reinen und in sich geschlossenen Formalismus. Es verbannt a priori, weil es per Definition in der instrumentellen Denkweise enthalten ist, Ideen wie das Schöne und das Gute und erhebt sie somit zu Idealen. Gleichzeitig gaukelt es dem Subjekt eine trügerische Harmonie gesellschaftlicher Widersprüche vor. Mit den Worten Christoph Martin Wielands:
Doch diese Zeiten der Konformitätsharmonie sind vorbei. Jedes Gauklerspiel hat seine Grenzen, jedes Gauklerspiel hat sein noch so kleines Gewissen. Die “Gelbwesten” sind der beste Beweis.
Quellen und Anmerkungen
[1] Herbert Marcuse (1898-1979) war einer der prominentesten Vertreter der Frankfurter Schule. ↩
[2, 3] Vgl. Hans-Joachim Maaz (2017). Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. München: Beck. Unter dem Begriff Normopathie wird eine Persönlichkeitsstörung des Menschen verstanden, die sich in einer zwanghaften Form von Anpassung an vermeintlich vorherrschende und normgerechte Verhaltensweisen und Regelwerke innerhalb von sozialen Beziehungen und Lebensräumen ausdrückt. ↩
[4] Der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger (1919-1989) war der erste Wissenschaftlicher, der das Phänomen der kognitiven Dissonanz näher untersuchte. Er wurde vor allem bekannt durch die Theorie der kognitiven Dissonanz und die Theorie des sozialen Vergleichs. ↩
[5] Steven Pinker (*1954) ist ein US-amerikanisch-kanadischer Kognitionspsychologe und Linguist mit Lehrstuhl am Harvard College. ↩
Literaturhinweis
Marcuse, H. (1970). Der eindimensionale Mensch. Luchterhand: Neuwied.
Foto: Grégoire Hervé-Bazin (Unsplash.com)
Deborah Ryszka (Jahrgang 1989), M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.“
Eine Antwort auf „Das Ende der trügerischen Harmonie“
ein gesellschaftlich sehr wichtiger und kluger beitrag – hat doch ebenso die die Neue Gesellschaft für Psychologie ihren nächsten kongreß herbert marcus “gewidmet” – vo dem entstehen der gelbwesten – aber mit dem wissen um die wirklichen probleme der gegenwart
“Call for papers bis zum 16.09.2017
„
Die Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition
“
(Herbert Marcuse)
Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie
vom 8. bis 11. März 2018 in Berlin”