Jede neue Technologie versprüht ihren Charme. Seit der industriellen Revolution und der mit ihr einhergehenden Massengesellschaft, die in sich den Widerspruch trug, dass dem Individuum das große Glück versprochen wurde, gingen die technologischen Revolutionen einher mit dem Versprechen, die Menschen von großen Mühen befreien zu können.
Mit den technischen Möglichkeiten, die das Kommunikationszeitalter mit der Entwicklung von Radio und Fernsehen bot, wurde zudem mehr Bildung für alle vorhergesagt. Beides, sowohl das Versprechen von weniger Mühe als auch die Aussicht auf mehr Bildung galt jeweils so lange, bis sich die Technologie flächendeckend durchgesetzt hatte. Dann folgte verstärkter Druck auf Produzenten wie eine größere Manipulation der Konsumenten.
Des Rätsels Lösung liegt, so meine These, nicht in der Technologie an sich begründet, sondern in den Besitzverhältnissen.
So lange Massengesellschaften, die sich industriell bestimmter Technologien bedienen, von Privatinteressen gesteuert werden, endet die Reise bei Ausbeutung und Manipulation.
Digitalisierung, der Begriff, der wie ein Mantra durch die Sphären rauscht und der vieles verspricht, ist von dieser kritischen Reflexion bisher unberührt. Nahezu die gesamte politische Klasse verfällt in einen schwärmerischen Zustand, sobald sie das Wort Digitalisierung hört. Was durch die Verbreitung der Technologie in Bezug auf die Autonomie des Individuums, ob als Produzent oder Konsument bewirkt werden wird, findet in den Überlegungen kaum Raum. Stattdessen dominieren die Träume von mehr Rationalität, und, oh Wunder, weniger Mühe und mehr Wissen und Bildung. Same old Story?
Die Besitzverhältnisse sind die alten. Und die Nutzung dieser Technologie unter diesen Gegebenheiten wird auf die Perfektionierung der Exploitation der menschlichen Arbeitskraft hinauslaufen wie auf die Durchbrechung aller Zustände von individueller Autonomie, wie wir sie kennen. Da winkt eine schöne neue Welt, die bis dato davon profitiert, dass sich viele gar nicht vorstellen können, wie viel Regulierung des Menschen daraus erwachsen kann, wenn die Besitzverhältnisse so bleiben, wie sie sind.
Und diese These bezieht sich nicht nur auf die westliche, sondern ebenso auf die östliche Hemisphäre.
Die größte politische Gefahr für das autonom und frei gedachte Individuum im Westen geht nicht von Regierungen aus, wie vielfach behauptet, sondern von den großen Digitalkonzernen, die ihren Feldzug gegen die individuelle Freiheit so betreiben, als gäbe es kein staatliches Regulativ, was, aufgrund der Geschwindigkeit der technischen Fortentwicklung, im Großen und Ganzen auch stimmt.
In der östlichen Hemisphäre sind es vor allem China und Indien, die vorexerzieren, wie der autokratisch-staatliche Einsatz digitaler Techniken dazu genutzt werden kann, um die Gesellschaft zu überwachen und zu steuern, wie sich das die Menschen im Westen kaum vorstellen können.
Vor allem das chinesische Modell dokumentiert, wie totalitär die Technik wirken kann, wenn sie von Gruppen beherrscht wird, die nicht nur Gutes im Sinn haben. Es ist an der Zeit, den unkritischen Hype um die Digitalisierung hinter sich zu lassen und die Notwendigkeiten auszutarieren, unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, diese Technologie zu benutzen und wo die roten Zonen sein sollten, in der sie auf keinen Fall zur Anwendung kommen darf. Der traditionelle Defätismus [1], der da besagt, verhindern könne man das sowieso nicht, hilft da überhaupt nicht. Defätismus ist immer die Kapitulation vor einer großen Aufgabe.
Es existiert keine Digitalisierung an sich. Es kommt darauf an, welche historischen Subjekte sie nutzen. Es geht schlicht um alles, wenn es um die Beherrschung dieser Technologie geht. Sie ist das eigentliche Thema.
Quellen und Anmerkungen
[1] Defätismus beschreibt den Zustand der Mutlosigkeit oder Schwarzseherei. Ursprünglich bezeichnete der Begriff die Überzeugung, dass keine Aussicht auf einen Erfolg oder Sieg besteht und eine daraus resultierende starke Neigung aufzugeben. ↩
Symbolfoto: Evan Phillip (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Der unkritische Hype um die Digitalisierung“
Und was ist mit der sozialen Absicherung derjenigen Arbeitnehmer,. die durch Digitaliserung ihren Arbeitsplatz verlieren?? Hartz IV und sozialer Abstieg oder?
Schon heute ist es möglich, den Aufenthaltsort und den physischen Zustand eines Jeden festzustellen.
Das Buch “1984” von Orson Welles bestätigt sich auf der ganzen Linie. Hoffen wir, dass es der gesamten Gesellschaft gelingt, hier noch Grenzen einzubauen.
Mit der Digitalisierung ist es auch nicht anders wie mit anderen Technologien: Das Leben wird damit nicht im Grunde verbessert, sondern nur an der Oberfläche. Die Form wird verändert, aber nicht das Inhaltliche.