Ist etwas interessanter als ein Dacheinsturz aufgrund der Schneeniederschläge in Oberammergau? Oder toppt irgendeine andere Meldung den Nachrichtenblock mehr als ein Sportunfall in Sölden aufgrund einer Lawine? Angesichts der Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen muss die Frage verneint werden.
Gebirgsjodler, die sonst nie im Fokus der Öffentlichkeit stünden, berichten, wie sie und wann sie etwas gesehen haben und dass das alles Wahnsinn sei. Mit der letzten Bemerkung haben sie allerdings recht. Nicht, weil die Natur so zurückschlägt, sondern weil der Aufwand der Berichterstattung nur noch einzahlt auf das Konto der Verdunkelung.
Im benachbarten Frankreich spielt sich das eigentlich Drama ab. Davon wird herzlich wenig berichtet. Der Grund dafür ist einfach:
Sollte die Massenbewegung, die sich dort unter der Chiffre Gelbwesten einen Namen gemacht hat, um sich greifen, gar nach Deutschland greifen, dann ist sehr schnell Schluss mit dem Projekt Europa, so wie es sich die Exportweltmeister vorstellen.
Denn dann bestünde die Chance, dass die Teile der Bevölkerung, die durch den Siegeszug des Liberalismus ins Hintertreffen geraten sind, sich eines Besseren besinnen und aufstünden gegen die bis ins kleinste Detail ihres Lebens wirkende und vordringende Ideologie der Bereicherung und Plünderung.
Für Präsident Emmanuel Macron, der, auch das wäre eine Meldung wert, mittlerweile auf die Massenproteste reagiert wie ein einfallsloser Autokrat und quasi den Schießbefehl autorisiert hat, für diesen letzten Hoffnungsträger des globalisierten schönen Lebens der Müßiggänger ohne Staatsräson ist das Spiel bereits aus. Mit Polizei und Militär wird er das Problem nicht lösen.
Frankreich steht bereits vor einer neuen Option wie Zerreißprobe, denn die Bewegung der Gelben Westen vereinigt zwei klassische Strömungen die es bereits vor Macron und seiner Idee des En Marche gab: einerseits die existenziell bedrohten kleinen Unternehmen, kleine Bauern und mittelständischen Schichten in der Provinz und andererseits libertär Denkende aus Proletariat, Prekariat und, eine besondere Signatur Frankreichs, Intellektuellen.
Neben den Schneefällen wäre es regelrecht spannend gewesen zu hören von den Aktionen der Gelben Westen, die, obwohl ohne Kopf und traditionelle Führung, aus dem Bauch heraus immer wieder Aktionen inszenieren, die eigenartigerweise ins Herz des Liberalismus treffen.
Als davon die Rede war, Macrons Zugeständnisse in Sachen Mindestlohn und Überstunden kämen den Staat sehr teuer, besetzten die Gelbwesten die Zufahrten von Amazon und anderen globalen Playern aus dem Silicon Valley, die bekannt sind für ihre Abneigung, Steuern zu zahlen und forderten sie auf, eben dieses jetzt endlich zu tun.
Bei Demonstrationen in Paris vor den Gebäuden der großen Radio- und Fernsehstationen skandierten sie die Anklage, sie seien Kollaborateure und brachten die gekauften Anstalten in eine historisch passende Kategorie, nämlich als die Komplizen derer, die eindringen und das Leben zerstören. Und nun haben sie aufgerufen, alles verfügbare Geld auf legale Weise bei den Banken abzuheben, um dem staatlichen wie dem privatkapitalistischen System zu zeigen, wie schwach es ist.
Und auch die Maut-Stationen, die Symbole der Privatisierung staatlichen Eigentums, von denen hierzulande noch führende Politiker träumen, wurden mittlerweile zu großen Teilen zerstört.
In Frankreich werden die spannenden Fragen erörtert, und zwar auf eine Art und Weise, die zeigt, dass es möglich ist, genau das zu fokussieren, was im letzten Vierteljahrhundert die gesamte Welt auf die Verliererstraße gebracht hat.
Davon nicht zu berichten wagte kein Mensch, der seinen Beruf als Journalist ernst nähme. Es bedarf keiner bösen Fantasie, wenn dieser Zustand als staatliche Nachrichtensperre gewertet wird.
Foto: Ricardo Mancía (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.