Die kollektive Geschichte besitzt Kontinuität, die individuelle nicht. Warum dieser Satz? Weil eine seltsame Kausalität für Törichte immer wieder auftaucht, die versucht, Geschichte plausibel zu erklären, obwohl sie sie abstrus entstellt.
Da sind dann Sätze zu lesen wie “(…) mit seinen Sätzen zu der Überlebensfähigkeit der Arten hat Darwin einen Stachel gesetzt für die spätere Ellenbogengesellschaft” oder “Karl Marx hat mit seinen Vorstellungen von der Diktatur des Proletariats zu den Gulags in der Sowjetunion geführt” oder “Carl von Clausewitz hat mit hat mit seiner Schrift ‘Vom Kriege’ den Grundstein für den asymmetrischen Krieg und den heutigen Terror gelegt”.
Zumeist gehen derartig hergestellte Verbindungen einher mit so etwas wie der Zuweisung persönlicher Verantwortung. Und spätestens dort fängt die Verblendung an.
Es ist richtig, eine Verbindung herzustellen zwischen den aktuellen Zeiterscheinungen und dem historischen Hintergrund, den sie haben. Die Akteure der Geschichte sind nie geschichtslos, sie entstammen einem Kontext, der von den Erfahrungen der Vergangenheit in starkem Maße mit geprägt ist. Und die Moderne, wie wir sie im Westen kennen, wurde formuliert und initiiert von geistigen Werken, die nicht nur auf Kant und Hegel, Fichte, Schopenhauer, Hobbes, Voltaire, Rousseau et cetera verweisen, sondern auch und gerade auf Karl Marx und Charles Darwin, auf Clausewitz und Humboldt.
Dass sich Menschen bestimmter Gedanken, die für das gesellschaftliche Kollektiv zu Papier gebracht wurden, bedienen, hat etwas mit dem Zwang zu tun, besser akzeptiert zu werden, wenn sie sich mit Werken legitimieren, die gesellschaftliche Anerkennung genießen.
Die Verantwortung für das, was als historisches Zitat bezeichnet werden müsste, zum Beispiel Darwin oder Marx, liegt nicht bei den Genannten, denn die sind bereits Geschichte und haben ihre Werke in bestimmten historischen Kontexten verfasst, sondern bei jenen, die sie zitieren und bei denen, die sie in dem neuen, aktuellen Kontext als gültig akzeptieren.
Und wenn in diesem neuen Kontext im Rahmen des Zitats Verbrechen begangen oder Absurdes getan wird, ist das die Angelegenheit der aktuellen Gesellschaft und sonst von niemandem.
Interessant in diesem Kontext ist, dass zumeist sehr moderne, auf den Fortschritt fokussierte Autoren und Schriften in der beschriebenen Weise diskreditiert werden sollen. Die Kräfte, die solche Parallelen herstellen wollen, in der Regel damit erreichen, dass das Schriftgut nicht mehr gelesen, sondern generell abgeurteilt wird. Dieses Unterfangen allein genügt, um die unlauteren Absichten zu illustrieren. Denn wer eine bestimmte Lektüre ausschließen will, der betätigt sich als Zensor.
Als Schmankerl am Rande, das die These durch diese verstörende Episode untermauert, könnte die Französische Revolution genannt werden. Sie war, alles in allem, zumindest in bestimmten Phasen, eine sehr blutige und brutale Angelegenheit.
Der Tenor der Protagonisten bei ihrer eigenen Legitimation lag auf der griechischen Antike. Bei den Historikern, die gerne alles auf die Autoren und deren Verantwortung zurückführen, wurde eine Anklage gegen die zitierte Antike nirgends gefunden.
Entweder unterliegt dieses einem Tabu oder es erhärtet sich die These, dass die moderneren Schriften und Autoren, die sich mit emanzipatorischen Gesellschaftsmodellen befassen, der Dorn im Auge der Experten gesellschaftlicher Verdunkelung sind.
Vielleicht hilft noch der Hinweis auf Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung“. Dort wird, übrigens in historisch einwandfreier Weise, die Potenz der Moderne reflektiert, dass selbst die charmanteste Idee der Emanzipation in der Katastrophe enden kann.
Die Leserschaft weiß, welcher Vorwurf auf die Bezugnahme auf diese beiden Autoren noch fehlt. Die Experten der Verdunkelung werden ihn parat haben.
Foto: Patrick Tomasso (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Experten der Verdunkelung“
Gut, dass darauf auch mal hin gewiesen wird! In allen Epochen dieser Zivilisation, wurden vor allem immer diejenigen zu Sündenböcken gekürt, die etwas ganz Neues erdacht oder erforscht hatten, was dem üblichen niederträchtigen Herrschafts-Trott zuwider lief. Das gefiel natürlich den jeweils Herrschenden nicht und da war es immer praktisch, diese Freidenker für alles, was sie selbst verbockt hatten, verantwortlich zu machen. Diese Methode ist ja in unseren Tagen besonders grell sichtbar. Die uralten Herrschertricks sind zwar alle furchtbar primitiv, aber leider immer noch nach wie vor wirksam. Darwin soll also einen Stachel gesetzt haben für die späteren Ellenbogengesellschaften?
Als zentralen menschlichen “Instinkt” oder Trieb beschreibt Charles Darwin nicht etwa die Aggression, sondern das Bedürfnis des Menschen nach Bindung und Zugehörigkeit. Nichts motiviere, so Darwin, den Menschen grundlegender, als sein Bedürfnis nach Gemeinschaft.
“Der Mensch findet,, übereinstimmend mit dem Schiedsspruch aller Weisen, dass die höchste Befriedigung sich einstellt, wenn man ganz bestimmten Impulsen folgt, nämlich den sozialen Instinkten. Wenn er zum Besten anderer handelt, wird er die Anerkennung seiner Mitmenschen erfahren und die Liebe derer gewinnen, mit denen er zusammen lebt; und dieser Gewinn ist ohne Zweifel die höchste Freude auf dieser Erde.” Das ist Darwin-Originaltext.
“Der Tenor der Protagonisten bei ihrer eigenen Legitimation lag auf der griechischen Antike. Bei den Historikern, die gerne alles auf die Autoren und deren Verantwortung zurückführen, wurde eine Anklage gegen die zitierte Antike nirgends gefunden.”
diesen langen artikel mit vielen interessanten kommentaren empfehle ich -anstelle einer antwort von mir … total spannendes thema und höchst aktuell, wie ALLES ZEITLOS WAHRE – das es auch außerhalb der naturgesetze gibt
https://www.zeit.de/kultur/2018-01/altertum-antike-naechste-fremde-uvo-hoelscher?