Immer öfter werde ich mit einem Phänomen konfrontiert, das, so bilde ich mir ein, vor 20, 30 Jahren eher eine Seltenheit darstellte, heute aber nahezu zu einem Standard avanciert ist. Es geht darum, dass sich Menschen, bevor sie einem Vorschlag oder einer Idee zustimmen, genau nach allem erkundigen, was in diesem Kontext an Klärungsmöglichkeit infrage kommen könnte.
Um es konkret zu machen: Neulich kam eine Mitarbeiterin zu mir, die mir mitteilte, sie wolle sich woandershin bewerben, weil sie glaube, es sei jetzt die Zeit für eine neue Herausforderung.
Nach einem Gespräch sicherte ich ihr meine Unterstützung zu. Bei der Bekanntgabe dieser Entscheidung wurde ich nahezu mit Fragen der anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überfallen, wer denn dann den Job der Gehenden mache, wie das organisiert werde, wie die Fristen seien, wer wo sitze, ob die Teams sich änderten et cetera, et cetera.
Passivität und Stillstand
Es ist ein Beispiel, und ich könnte sehr viele aus dem alltäglichen Leben anführen. Selbstverständlich sind die Fragen, mit denen ich im Nachhinein konfrontiert wurde und die ich auch im Kopf hatte, alle relevant. Aber dennoch irritiert mich diese Denkweise, weil ich immer wieder erlebe, dass sie bei der Erörterung einer einfachen Frage zu einer Komplexität aufgeblasen werden, die verhindert, dass überhaupt Entscheidungen getroffen werden. Denn diese Konsequenz, das Erzeugen eines mulmigen Gefühls gegenüber einer immer komplexer werdenden Aufgabe, erlebe ich täglich. Sie führt, so meine These, zu Passivität und Stillstand.
Und in diesem Kontext mag ich gar nicht den Bogen spannen zu der aktuellen Politik, die eben diese Befindlichkeit zu einem politischen Argument formt, das als Antwort gedacht ist an viele Formen der Kritik.
Wir kennen das: Die Welt ist zu komplex geworden für einfache Antworten. Natürlich steckt auch immer ein Gran Wahrheit [1] darin. Nur ist anzumahnen, dass Akteure, die mitten im Geschehen stecken, in der Lage sein müssen, ihr Tun mit einfachen Worten und jedermann verständlich erklären zu können. Sind sie dazu nicht in der Lage, sind sie deplatziert, tun sie es nicht, auch wenn sie es können, verdienen sie kein Vertrauen.
Die Phrase, dass die Welt zu komplex geworden ist, um einfache Antworten zu geben, ist in vielen Fällen eine Nebelkerze, um schlechte Politik zu kaschieren.
Schlittern in die Agonie?
Das Erzeugen von Komplexität, bevor, sagen wir, eine einfache Kausalität dargestellt wird, entspringt jedoch in erster Linie, in der einfachen Lebenspraxis aller, der Furcht vor Entscheidung. Komplexität macht es schwer, einfache Entscheidungen zu treffen. Deshalb, so meine Beobachtung, gehen doch eine Reihe von Akteuren mit durchaus Zufriedenheit ausstrahlenden Gesichtern aus stundenlangen Sitzungen, in denen man sich gegenseitig klar gemacht hat, wie komplex und kompliziert das alles ist und folglich keine Entscheidung getroffen wurde. Da funktioniert die Reflexion des Komplexen bestens als Mittel, um den Stillstand zu wahren.
Da wir es, so meine These, mit einem in der Mentalität verwurzelten Massenphänomen zu tun haben, ist zu befürchten, dass die hiesige Gesellschaft momentan nicht dazu in der Lage ist, die Entscheidungen zu treffen, die aufgrund der rasanten machtpolitischen Veränderungen auf dem Planeten erforderlich wären.
Und dann kommt noch der Hinweis, dass die Entscheidungen, die in anderen Ländern aufgrund der veränderten Lage getroffen wurden, die reine Katastrophe bedeuteten.
Dann lieber keine Entscheidung? Schlittert da ein großes Kollektiv in die Agonie? [2]
Quellen und Anmerkungen
[1] Das Gran ist eine alte Maßeinheit der Masse. ↩
[2] Agonie wird umgangssprachlich gebraucht im Sinne von “Leid, qualvoller, auswegloser Zustand”. Der Begriff bezeichnet konkret einen über einen längeren Zeitraum andauernden Todeskampf. Dieser wird begleitet von einer Reihe Erscheinungen, die dem Eintritt des Todes unmittelbar vorausgehen. ↩
Foto: Zeshalyn Capindo (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Schlittern in die Agonie?“
….und wen dann einmal jemand eine entscheidende , vielleicht ganz neue Idee zum Besten gibt, die auf eigenem Gedankenhumus gewachsen ist, stürzen sich in der Regel die angeblich Bedächtigen darauf und wischen sie möglichst konsequent als persönliches Hirngespinst wieder weg, die doch sowieso nicht realisierbar sei. Aber sie vergessen dabei, dass der Spruch: “Wo ein Wille,da ein Weg” durchaus gerade für uns als menschliche Spezies seine Berechtigung hat. Wenn bisher die blödsinnigsten, unnützesten Dinge geschaffen werden konnten und die ebensolche Entscheidungen getroffen werden konnten, warum soll nicht auch einmal eine von Herzen kommende, redlich entwickelte individuelle Idee zu verwirklichen sein? Ich glaube, es grassiert da eine Krankheit: die Denkfäule.