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Kultur

Vom Schweine Janz zur Rauten Angie

Es könnte hilfreich sein, aus rohen und kalten Mächten wieder einmal Menschen zu machen, die in das komisch-absurde Epos des Homo sapiens passen.

Ein immer wiederkehrender Vorwurf an die Kälte der modernen Zeiten besteht in der Klage über den Verlust der Poesie. Poesie im Sinne der metaphorischen, stilistischen, onomatopoetischen [1] und originellen Bereicherung des Alltagsgeschehens, einerseits in der Beschreibung des Geschehenen, andererseits auch nur in der Charakterisierung der Akteure durch Namen.

Schweine Janz und Chiang Kai-shek

Kramen wir in unserem Gedächtnis, so fallen sogleich vor allem solche Namen ein, die eigentlich jeder von uns hatte, als die Menschen noch versuchten, den Charakter der sozialen Interakteure zu entschlüsseln und ihnen als Signet anzuheften.

Das gab es im Alltag genauso wie in der großen Geschichte. In letzterer gab es Iwan den Schrecklichen, es gab zahlreiche Große und einen Kleinen, es gab hässliche Herzoginnen, aber meistens, mit Verlaub, waren es Beschreibungen der Erscheinungsform. Im Alltag konnte das dann anders aussehen, und je weiter man in die einzelnen sozialen Milieus hinabstieg, desto poetischer wurde es. Mir selbst fallen zahlreiche Figuren ein, auf die ich in meiner Biographie traf, die nahezu nur unter der “Charak” und kaum mit ihrem bürgerlichen Namen bekannt waren.

Mir klingelt es bis heute in den Ohren, wenn ich an Dreschkasten Wüllm (Landmaschinenschlosser), Schweine Janz (Metzger), Mücken Theo (Finanzwart), den wilden Hecht (Wirt) oder den müden Pinsel (Maler und Wirt) denke. Der schärfste Lehrer wurde Chiang Kai-shek genannt.

Dann gab es einen Boche Frochte (ein Bergmann, der eine Französin liebte), eine Puschkin Erna (sie steckte sich nach dem Verzehr eines jeden Schnapses mit zugehöriger Kirsche den kleinen Spieß wie eine Trophäe ans Revers), die Rote Spind Lola (sie ging nachts aus gewerblichen Zwecken in die Kaserne), den roten Zar (es war meine Großmutter, die eisern und sozialdemokratisch über die Familie herrschte) et cetera.

Goethe Wolferl und Heidegger Martl

Die Liste ließe sich je nach Milieu endlos fortsetzen. Erst gestern noch traf ich einen Bekannten aus früheren Zeiten, der an den Neunfinger Karl erinnerte. In diesem Zusammenhang kam die Sprache auf den Bootsmann, den es nach Florida verschlagen hatte, den Onkel Molotow, Willy ohne Noten und Mutter Birken.

Beschriebe man die erwähnten Menschen so nüchtern, wie es teilweise heute geschieht, so wäre ihnen viel genommen und schnell kehrte Langeweile ein. So aber, genährt durch Fantasie, Esprit und Witz, wird die unmittelbare Erfahrung noch einmal aktiviert und vieles im Urteil erhält eine menschlichere Note.

In diesem Kontext ist es interessant, dass der bayrische anarchistische Katholik Oskar Maria Graf einen Essay verfasst hatte, in dem er vom Goethe Wolferl und vom Heidegger Martl sprach, deren Werke er bezüglich der Kernaussagen ins Bayrische übersetzte und sie in dieser Profanisierung für das einfache Volk diskursfähig machte. Mir gefällt dieser Ansatz.

Rauten Angie und der König der Gummigeschosse

Bei all der Enttäuschung und Verbissenheit, die uns momentan begleitet, könnte es sehr hilfreich sein, aus so rohen und kalten Mächten wieder einmal Menschen zu machen, die in das komisch-absurde Epos des Homo sapiens passen.

Stellen wir uns vor, wir sprächen von der Rauten Angie, vom blonden Wein-Karussell, vom bayrischen Dieselfilter, vom König der Gummigeschosse, von der europäischen Schnapsflasche, von der lettischen Eis-Ikone, vom amerikanischen Betonmischer, dem Muschik im Kreml oder dem Räuberhauptmann aus Rio.

Schon wären wir mitten im Film. Schon nähmen wir Partei, und wie im Traum, alle Hemmungen wären verflogen. Aber vielleicht liegt es auch am Schneegestöber. Da ist es spannend, was die Wetter-Walküre heute Abend für die nächsten Tage prognostizieren wird.


Quellen und Anmerkungen

[1] Onomatopoesie ist die sprachliche Nachahmung von außersprachlichen Schallereignissen. Alternative Bezeichnungen sind zum Beispiel Lautmalerei, Lautnachahmung, Klangnachahmung, Schallwortbildung oder Klangnachbildung.


Foto: Alwin Kroon (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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