Von Mal zu Mal erscheint im Wörterwald der alternativen Medien der Begriff des Perspektivenwechsels. Recht unspektakulär kommt er daher, weil er kein polemisches Potenzial in sich birgt und von daher wenig Attraktivität für all jene besitzt, die sich gerne auf der anderen Seite sehen und zudem im absoluten Recht. Und genau darum geht es denen, die die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels reklamieren.
Nicht, wie vielleicht suggeriert, sogleich den eigenen Kurs zu revidieren, sondern zunächst einmal, um wahrzunehmen, dass andere Sichtweisen, die ihrerseits durchaus Berechtigung haben, existieren.
Das Kuriose an der gegenwärtigen Lage ist die Tatsache, dass ausgerechnet jene, die viel von Demokratie und Toleranz reden, einen im Diskurs notwendigen Perspektivenwechsel per se ablehnen und mit Geschützen auffahren, die eher an die Heilige Inquisition des Mittelalters erinnern als an einen demokratischen Diskurs der Gegenwart.
Alle Projekte, in denen die Gesellschaft Karten hat, werden als wahrhaftig aus Sicht derer, die lediglich ein Mandat aus Wahlen haben, reklamiert und jede noch so zaghafte Anmerkung, man könne dieses oder jenes auch anders sehen, als Bündnis mit dem Teufel, oder noch schlimmer, als Bündnis mit Putin oder der neuen Rechten diskreditiert.
Der notwendige Perspektivenwechsel
Nur am Rande, meine so klugen und von der Komplexität der Dinge berauschten Herrschaften, so tritt das Dogma auf, und so wird Vertrauen vernichtet. In diesem Sinne waren die letzten Jahre sehr erfolgreich.
Doch zurück zum notwendigen Perspektivenwechsel. Auch wenn es im Hause des Dogmas wie ein Schlag auf das Trommelfell wirkt: Von der Chinesischen Mauer aus betrachtet sieht die Welt anders aus als von einem Türmchen an der Spree und von einer Brücke über den Potomac längst nicht so wie am Strand von Kapstadt.
Die Welt und ihre Gesellschaften haben viele und unterschiedliche Perspektiven, die aus einer unterschiedlichen Geschichte und unterschiedlichen Lebensbedingungen resultieren. Es galt einmal als hohe Kunst der Diplomatie, ihrerseits eines der positiven Resultate aus dem Westfälischen Frieden, zwischen diesen diversen Welten zu vermitteln, ohne wie ein Schulmeister gleich Noten zu verteilen und die Stümper auszudeuten.
Freiheit oder Knute
Das geht nicht immer, denn der Drang bestimmter Gesellschaftssysteme, die Welt zu beherrschen, scheint ein Axiom der Menschheit zu sein und macht ihre Geschichte immer wieder einmal zu einem fatalen Nullsummenspiel. Und, so wie es die Geschichte anhand unzähliger Beispiele belegt, existiert immer die Wahl zwischen Freiheit und Knute.
In Bezug auf die Art und Weise der Kommunikation, die ihrerseits als Begriff unsere Epoche überragt, ist Freiheit mit dem Weg des Perspektivenwechsels zu übersetzen und die Knute mit dem absoluten Dogma.
Wer sich und seine Sichtweise als alternativlos bezeichnet, steht sprichwörtlich in Tomás de Torquemadas [1] Schatten, jenem Vollstrecker der spanischen Inquisition, der in den Geschichtsbüchern als einer der schlimmsten gehandelt wird.
Hinter der Tünche des Liberalismus und unter Reklamierung der Tugenden der Aufklärung wurde ein schlimmes Kapitel eines neuen Absolutismus aufgeschlagen. Daher ist es dringend und wichtig, den Perspektivenwechsel weiter zu pflegen und seine Resultate zu kommunizieren. Denn die Alternative ist das wohl wirksamste Gegengift gegen das Dogma, nennen wir es ein Antidogmatikum.
Quellen und Anmerkungen
[1] Tomás de Torquemada (1420-1498) war ein spanischer Dominikaner und der erste Großinquisitor Spaniens. 1478 wurde er Inquisitor für Kastilien und 1483 erster Großinquisitor des Königreichs Aragón. Später wurde seine Zuständigkeit auf Kastilien erweitert und 1484 ausgedehnt auf ganz Spanien. Tomás de Torquemada schaffte die Basis für die Spanische Inquisition durch den Aufbau eines eigenen inquisitorischen Verwaltungsapparates. Das Gewalt- und Verfolgungssystem bestand bis ins 19. Jahrhundert. ↩
Foto: Daniel Jericó (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Für den Perspektivenwechsel: Die Notwendigkeit eines Antidogmatikums“
Volle Zustimmung. Der Perspektivenwechsel macht uns auch erst richtig reich. Am besten, man hat mit den Menschen zu tun, die eine andere Perspektive haben. Wenn man sich ihrer Perspektive nicht verschließt, kann man rücksichtsvoll werden oder seine Rücksichtnahme erweitern.
Das scheint mir aber auch das Problem von Kreisen zu sein, die sich in ihre Welt zurückgezogen haben. Sie bestätigen sich nur noch in ihrer Perspektive. Die anderen sind nur Figuren, die man hin und her schiebt. Diese Kreise sind auch zu Kriegen fähig. Oder sie nutzen einen begrenzten Perspektivenwechsel, um die besten Mittel zu nutzen, die Menschen zu täuschen.
Echter und umfassender (immer offener) Perspektivenwechsel ist ein Schlüssel zu einer sozialen Welt.
G.K.
Vermutlich liegt die Herausforderung an jeden heutigen erwachsenen Menschen – als wesentliche Unterscheidung vom Tier – darin, sein Bewusstsein zu erweitern und die fremderen Perspektiven anderer Menschen und der (leider?) in seiner Verantwortung befindlichen Geschöpfe und Gaben unseres Planeten 🌏 besser verstehen und nachempfinden zu können. Und warum nicht auch eine außerirdische Perspektive? In die Zukunft und in die Vergangenheit schauend im Jetzt achtsam und gerade eben nicht gleich-gültig sein… Werte benennen und ein umsichtiges einsichtiges Miteinander lernen… so gut als möglich… nicht der alternativlos-undemokratische „Konsens“ von Lobby-Mehrheiten als Wegweiser – sondern gelebte Verantwortungsethik und ein Sinn für Demut .. (?)