Veränderungen vollziehen sich nicht immer für alle sichtbar und von jedermann bemerkt. Nicht selten handelt es sich um einen schleichenden Prozess. Da wird mal hier etwas vollzogen, was unter normal empfundenen Umständen eigentlich weder gemacht noch geduldet würde. Und dann wird dort, in Bezug auf das gerade erfolgte Hier, etwas akzeptiert, was noch weiter von der eigentlichen Normalität liegt.
Es handelt es sich um etwas, das ein kluger Kollege einmal als subkutan, also unter der Haut liegend, bezeichnete. Und dann geht es so weiter, und plötzlich sind diejenigen, die glauben, alles unterläge noch den bekannten Regeln und Werten, in einer belächelten Minderheit.
Das System hat den Wandel bereits hinter sich, und der Großteil der Mitglieder bemerkt es erst, wenn es längst zu spät ist.
Die hier beschriebene Art und Weise ist, so glaube ich, ein nicht dummes, sondern kluges Vorgehen derer, die ein System verändern wollen. Den offenen Konfrontationskurs wollen sie nicht eingehen, weil sie wissen, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen wäre.
Aber ein schleichender Prozess, der immer dann besonders Erfolg verspricht, wenn man sich in Phasen der Sättigung befindet, weil dann die Aufmerksamkeit der Oberflächlichkeit gewichen ist, ein derart schleichender Prozess hat gute Aussichten auf Erfolg.
Besehen sie sich das Sozialsystem, in dem Sie sich hauptsächlich bewegen! Kennen Sie nicht auch Phasen, die der Beschreibung entsprechen? Ich wage zu behaupten, dass kaum jemand, der oder die diese Zeilen liest, eine solche Erfahrung im Kleinen nicht bereits gemacht hätte.
In Bezug auf das, was im Land des Michels als die „große“ Politik beschrieben wird, liegt hinter uns eine bereits lange Zeit, in der ein solcher Systemwechsel, oder, wie die Geostrategen jenseits des Atlantiks so gerne formulieren, in der ein Regime Change vorbereitet und durchgeführt wurde.
Das bezieht sich auf die Bundesrepublik Deutschland, aber es bezieht sich auch noch auf andere europäische Staaten. In den erwähnten Ländern wurde durch einen schleichenden Prozess ein Konsens zerstört, der vorher für eine erstaunliche Stabilität gesorgt hatte. Er bestand in der formulierten Chance für alle, auf der sozialen Leiter der jeweiligen Gesellschaft mit realistischer Aussicht nach oben kommen zu können und er bestand in einem Bekenntnis zur Schaffung einer Weltfriedensordnung. Beides ist dahin.
Das Gros der nicht in teurem Tuch Geborenen hat in unseren Breitengraden das gleiche Los wie die Vorfahren – die meisten verharren im Prekariat. Und die Friedenspolitik ist einer offenen Einmischungen- und Kriegsstrategie gewichen. Daran gearbeitet haben viele – von Thatcher bis Blair, von Schröder und Fischer bis Merkel und Schäuble.
Das wenig Verblüffende eines schleichenden Prozesses des Systemwandels ist der gravierende Unterschied der Zustände, die am jeweiligen Anfang und Ende stehen. Zunehmend viele Menschen sind entsetzt über das, was sich nun vor ihren Augen ausbreitet.
Wer hätte bei den vielen kleinen Lässlichkeiten geglaubt, dass eine derart perfide Agenda hinter dem Ganzen steht?
Und so, wie zwei existenzielle Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts zerstört wurden, sind es auch zwei Schlüsse, die aus diesem Prozess gezogen werden sollten: Es existiert nichts, was es nicht wert wäre, genau auf die soziale Ausrichtung ganz genau betrachtet zu werden und Entsetzen allein ist kein guter Ratgeber. Wie gesagt, alles ist veränderbar.
Foto: Cliff Johnson (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Vom schleichenden Prozess der Veränderung“
»Wer hätte bei den vielen kleinen Lässlichkeiten geglaubt, dass eine derart perfide Agenda hinter dem Ganzen steht?«
Geschichte, wie sie uns erzählt wird und dokummentiert ist, zeigt Symptome. Die eigentlichen Absichten und Urheber dahinter sind nicht unbedingt leicht erkennbar. Trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die dahinter blicken und ihre Erkenntnisse auch der Menschheit zur Verfügung stellen.
Das können z.B. auch Pop-Stars sein (man lese die Texte von Roger Waters!!!) – oder hellsichtige Menschen, wie z.B. Rudolf Steiner:
“Es wird nicht lange dauern, wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht ein direktes, aber eine Art von Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen, ein Gesetz, welches den Zweck haben wird, alles individuelle Denken zu unterdrücken.” (Rudolf Steiner, GA 167, Vortrag vom 4. April 1916)
Und nun denke man mal an die Vorbereitungen, Durchführung und Auswirkungen zu 9/11… oder nehme das Wort “political Correctness” …
Trotzdem ist Ihre Frage berechtigt, weil die meisten Menschen so in ihren Alltagsgedanken und Auffassungen gefangen sind, daß sie einen größeren Zusammenhang gar nicht mehr wahrnehmen und erkennen können … und das soll ja auch so sein …
” Er bestand in der formulierten Chance für alle, auf der sozialen Leiter der jeweiligen Gesellschaft mit realistischer Aussicht nach oben kommen zu können und er bestand in einem Bekenntnis zur Schaffung einer Weltfriedensordnung. Beides ist dahin.”
Lässt sich besser das hässliche Gesicht der Politik zusammenfassen, was uns gegenwärtig anstarrt?