Immer wieder muss ich schmunzelnd an den Priester zurückdenken, der uns in meiner Schulzeit als Religionslehrer zugewiesen wurde. Es war ein damals junger, übergewichtiger Mann, der stets gemessen auftrat, aber durchaus über Humor verfügte. Wir mochten ihn, weil er jede Frage zuließ und keine Tabus akzeptierte.
“Ich neige zu Trunksucht und Völlerei!”
Ab und zu lud er uns zu sich nach Hause ein, wo es immer gutes Essen und auch Bier und Schnaps gab. Es kam nie zu irgendwelchen Vorfällen, sondern die Abende bleiben allen als gelungene Veranstaltungen in Erinnerung. Das Einzige, was uns anfänglich überraschte, war die Offenherzigkeit des Mannes hinsichtlich seiner eigenen Schwächen.
Gleich bei unserem ersten Treffen und nach dem dritten Bier begann er einen Choral zu anzustimmen, indem er die folgenschweren Zeilen preisgab: Ich neige zu Trunksucht und Völlerei!
Was dieser Mann, der den Weg, den er ging, aus freien Stücken gewählt hatte und der sich dessen bewusst war, mit welchen Einschränkungen die Entscheidung seines freien Willens verbunden war, sich vorbehalten hatte, war das Recht auf eine Kompensationshandlung, die nicht dem Regelwerk seiner Institution entsprach. Weder der Alkoholrausch noch die dauerhafte Einnahme üppiger Speisen gehören zum Kodex der katholischen Kirche.
Und, obwohl gerade diese Institution das Urheberrecht auf die Institution der Heiligen Inquisition erheben kann, diese katholische Kirche hat sich hochgearbeitet zu einer Toleranzstufe, indem sie und ihre Vertreter zumindest inoffiziell von lässlichen Sünden [1] spricht.
Auf dem Vorhof der Doktrin
Warum ich das erzähle? Weil ich glaube, dass wir, die so moderne und aufgeklärte Gesellschaft, es verlernt haben, lässliche Sünden zu akzeptieren. Gerade gestern noch berichtete ein junger Wissenschaftler, der sich an einem renommierten Institut mit dem Prozess der Digitalisierung aller Lebenswelten befasst, dass derzeit in Berlin alles, was zu diesem Thema gedacht werden könne, mit der Ethikkeule erschlagen werde.
Nun sind ethische Fragen immer berechtigt, wenn sie jedoch alles dominieren, befinden wir uns bereits auf dem Vorhof der Doktrin.
Pfarrer Alfons, so hieß der eingangs erwähnte sympathische Mann, rauchte übrigens nicht. Aber allein das Rauchen, das Trinken, das Essen, die Art Fahrrad zu fahren et cetera, also alles, was ein vernünftiges Wesen in den glorreichen Zeiten des Aufbruchs der Moderne selbst bestimmen konnte, sind einer argwöhnischen und doktrinären Begutachtung unterlegen.
Eine Formulierung wie die der „lässlichen Sünde“ findet in der totalitären Sprache der neuzeitlichen Inquisition gar nicht mehr statt. Es hat den Anschein, als wäre die Nation nach 15 Jahren der Großen Koalition unter christdemokratischer Führung gesellschaftlich dort angekommen, wo die Kirche schon nicht mehr war. Ein beklemmenderes Resümee lässt sich kaum anstellen.
Misanthropen aufs Schafott!
Es ist, wie immer in Zeiten gesellschaftlicher Erstarrung, nun an der Zeit, dass sich das mutige Individuum wieder zu Wort meldet und dem folgt, was ihm auch Spaß macht und gut tut. Nein, ihr Krähen der argwöhnischen Beobachtung, nicht auf dem Rücken anderer, sondern gerade dort, wo die Souveränität des Individuums liegt: im Hinblick auf die eigene Sache.
Der allgemeine Zustand der Misanthropie [2], der aus jeder nur erdenklichen Perspektive beobachtet werden kann, muss abgelöst werden durch eine aggressive Verbreitung von Lust und Freude. Die Devise, nach der ein Neuanfang beginnen kann, muss – und natürlich rein metaphorisch – lauten: Misanthropen aufs Schafott!
Quellen und Anmerkungen
[1] Lässliche Sünde ist nach traditioneller katholischer Lehre eine Sünde, die auch ohne das Sakrament der Versöhnung und Absolution nicht zur ewigen Verdammnis führt. Sie unterscheidet sich somit von einer Todsünde. ↩
[2] Misanthropie beschreibt die Sichtweise einer Person, welche die Menschen hasst oder zumindest deren Nähe ablehnt. Eine solche Person wird Misanthrop genannt, also Menschenhasser oder Menschenfeind. ↩
Foto: Yoann Boyer (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Misanthropen aufs Schafott!“
…schade eigentlich…..aber anscheinend brauchen die Deutschen ihr Schafott. Und ich dachte “wir” wollten keine Todesstrafe mehr…. schon gar nicht dafür, wenn ich mal meine Ruhe haben will…trotz Trunksucht und Völlerei …