Ein Freund von mir ist jemenitischer Indonesier. Oder genauer genommen sogar jemenitischer Javaner. Irgendwann packte seine Familie ihre Sachen im Jemen und zog weit weg in die Tropen. Sie siedelte sich auf der indonesischen Insel Java an. Dort wuchs er auf.
Reisen bildet
Als er volljährig war, sagte er seinem Vater, er wolle die Welt kennenlernen. Er arbeitete und sparte und konnte sich irgendwann ein Flugticket nach Europa leisten. Einfach!
Er blieb für einige Zeit in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden. Seinen Aufenthalt verdiente er sich durch Arbeiten, die ihm immer wieder angeboten wurden. Als er genug gesehen hatte, wollte er zurück nach Indonesien.
Da er kein Geld für einen Flug hatte, machte er sich so auf den Weg. Und so legte er auf dem Landweg fünfzehntausend Kilometer zurück, durchquerte viele Länder und arbeitete immer wieder hier und dort, um sein Fortkommen zu finanzieren.
Die Rückreise nach Hause dauerte ziemlich genau ein Jahr. Wenn er heute, als Mann, der bereits auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann, in seinem schönen Domizil am Indischen Ozean, darüber berichtet, dann lächelt er weise, und sagt, es sei die wichtigste Zeit seines Lebens gewesen. Auf dieser Reise hätte er vieles gelernt.
Smartphone und Apps
Was zu seiner Zeit eine Rarität war, wird heute als Möglichkeit vielen Menschen zugeschrieben.
Wie nie zuvor jetten Menschen um den Erdball, um die Welt zu erkunden. Waren sie vor zwanzig Jahren noch meistens mit einem Equipment ausgerüstet, das in Reiseführern empfohlen wurde und oft sehr übertrieben aussah, man denke an die Tropennetze schon auf den Flughäfen oder die dort bereits konfiszierten Multifunktionsmesser, so ist es heute das Smartphone.
Noch vor einigen Tagen berichtete mir eine Frau, die ich in einer fremden Stadt auf einem Kongress traf, wie sehr ihr diese Apps hülfen. Ich nahm meinerseits an dem dortigen, wie immer schönen Abendprogramm, nicht teil, weil ich einerseits noch etwas erledigen musste, aber auch andererseits wenigstens einen Hauch von dem erfahren wollte, wo ich mich befand.
Ich ließ mich durch den dunklen Abend treiben, entdeckte wunderbare Lokale, traf auf Leute, die etwas zu erzählen hatten, und blickte in Abgründe, die in keinem Reiseführer stehen. Allein diese wenigen Stunden bescherten mir eine Welt, die in den Apps nicht vorkommt. Kein Zufall, dass mir mein Freund einfiel, der das Reisen ohne Netz und doppelten Boden als eine Art Universität ohne Institution, als eine wahre Schule des Lebens bezeichnet.
Wenn ich an die Reisen denke, die ich meinerseits in meinem bisherigen Leben unternommen habe, dann resultierte alles, woran ich mich gerne erinnere, aus Geschichten, die aus dem Ungeplanten entstanden sind.
Reibungslosigkeit und Langeweile
Da waren vergebliche Wege, auf denen ich skurrile Figuren traf, die mir ihre Sicht der Welt erklärten, da waren Speisen, die auf keiner Karte standen und da waren Orte, die nirgendwo verzeichnet waren. Es waren immer Reisen ohne Kompass. Das alles charakterisierte die Länder, in denen ich mich befand.
Ich werde diese Art der Erfahrung nicht eintauschen gegen Apps und Standards, die Reibungslosigkeit und Langeweile gleichzeitig generieren. Über einem freien Mann ist nur noch der Himmel.
Foto: Chris Lawton (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Reisen ohne Kompass“
Sehr schöner Beitrag, wie oft habe ich schönes gefunden ohne Plan und Navygationsapp etc