Das, was den britischen Meinungsmachern mit dem Brexit gelungen ist, wird – wenn sich die Krise auch in Deutschland zuspitzt –, noch so manch ein Verfechter des Wirtschaftsliberalismus neidisch betrachten. Denn dort ist gelungen, die EU für alles verantwortlich zu machen, was das Land seit der unseligen Margaret Thatcher [1] erleiden musste.
Chicago Boys
Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts bildeten den Auftakt für eine europäische Sanierung nach dem Muster der sogenannten Chicago Boys, einer amerikanischen Schule der Ökonomie, die alles, was ein Staat leistete, haarfein monetarisierte und dann skandalisierte.
Jede staatliche Ausgabe war ein Problem, und alles, was die Menschen brauchten, konnte auch der freie Markt liefern. Es begann eine systematische Privatisierung staatlicher und öffentlicher Leistungen und gleichzeitig wurde ebenso systematisch alles, was an Wertschöpfung auf der Insel noch stattfand, liquidiert.
So entstand ein relativ beständiges Heer von vier Millionen potenziellen Proletariern, die niemand mehr brauchte und es begann ein allgemeiner Trend der Verarmung, der in Europa seinesgleichen sucht.
Tony Blair und Rupert Murdoch
Was die konservative Thatcher begann, setzte der Sozialist Tony Blair [2] fort. Es begann der Umbau der Insel – genauer gesagt Londons – in eines der Hochzentren des internationalen Börsenhandels und der Finanzspekulation bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Regionen mit allem, was dazugehört: die Verrottung der Infrastruktur, die Verschlechterung von Bildung und vom Gesundheitswesen und ein immer drastischer und reglementierend vorgehendes Sozialwesen.
London selbst wurde zu einem Ort artifizieller Existenz. Die Stammbewohner wurden immer mehr aus dem Zentrum heraus gedrängt. Dort wohnen, wenn überhaupt, internationale Spekulanten, die sich vor Reichtum nicht mehr retten können. Täglich pendeln circa eine halbe Million Menschen von nah und fern in die City of London, dort zu wohnen kann sich von diesen niemand mehr leisten.
Die dem Milliardär Rupert Murdoch [3] gehörende Presse hetzte in den letzten Jahren gegen alles, was aus Brüssel kam, wenn es um die Beschneidung der Freiheiten ging, von dem seinesgleichen so herrlich profitierte.
Gegen die Europäische Union
Sowohl die europäische Initiative gegen Steueroasen wie die Caymaninseln oder die Isle of Man als auch die Aktivitäten, die von Brüssel gegen die Monopolisierung des Pressewesens ausgingen, veranlassten die Meinungsmacher zu regelrechten propagandistischen Feldzügen gegen die Europäische Union (EU).
Und darin liegt das Paradoxe: Die EU, ihrerseits in den letzten fünfzehn Jahren allzu oft – vor allem durch deutsche Interessen – zu einem Mittel zur Durchsetzung wirtschaftsliberalistischer Vorstellungen instrumentalisiert, hatte gerade in Großbritannien den Versuch unternommen, die Auswirkungen derselben zu mäßigen. Und dafür wurde sie angegriffen und geschickt für das verantwortlich gemacht, was besonders in Großbritannien durch die systematische Zerstörung des Gemeinwesens als Ergebnis zu erleiden war.
Brexit
Der Brexit – wie er nun hier in Deutschland kolportiert wird – , als ein Akt Verblendeter, war der Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung, den sozialen Generalangriff gegen die in Jahrzehnten erkämpften Existenzstandards zu beenden. Stattdessen saßen die meisten denen auf, die ihn betrieben hatten. Und ausgerechnet in diesem Fall stand die EU auf der richtigen Seite, obwohl es schwer fällt, das zu glauben.
Die Koinzidenz [4], die jedoch in die meisten Länder der EU wirkt, ist das gemeinsame Leiden unter den Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus.
Was in Großbritannien an Ablenkung gelang, wirkte bei den seit Monaten anhaltenden landesweiten Protesten der Gelbwesten in Frankreich gerade einmal zwei Wochen. Um es einmal sehr wohlwollend auszudrücken: die Bevölkerungen Europas wie die europäischen Institutionen sind derweil das Opfer derselben Ideologie.
Quellen und Anmerkungen
[1] Margaret Hilda Thatcher (1925-2013) war eine neoliberale britische Politikerin. Nachdem die Konservative Partei die Unterhauswahlen 1979 gewonnen hatte, war Thatcher vom 4. Mai 1979 bis zum 28. November 1990 Premierministerin des Vereinigten Königreichs. Der Sieg im Falklandkrieg 1982 brachte Thatcher Ruf als „Eiserne Lady“ ein und war eine wichtige Basis für nachfolgende Wahlsiege der Konservativen. Außenpolitisch lehnte Thatcher sich eng an die USA an, fuhr einen antikommunistischen Kurs und stand nach anfänglicher Sympathie dem fortschreitenden europäischen Einigungsprozess zunehmend feindselig gegenüber. Unter Thatcher erfolgte eine umfassende Deregulierung vor allem des Finanzsektors und eine Flexibilisierung der Arbeitsmarktgesetze. Staatsunternehmen wurden in großem Umfang privatisiert und der Einfluss der britischen Gewerkschaften gebrochen. Thatchers Politik wurde als Thatcherismus bekannt. Der Soziologen Anthony Giddens sah folgende Kennzeichen: Schlanker Staat, autonome Zivilgesellschaft, Marktfundamentalismus, autoritäre Moral in Verbindung mit ökonomischem Individualismus, Selbstregulierung des Arbeitsmarktes, Hinnahme sozialer Ungleichheit, traditioneller Nationalismus und/oder Patriotismus, Sozialstaat als reines Sicherheitsnetz, lineare Modernisierung, schwach ausgebildetes ökologisches Bewusstsein, neorealistisches Denken in der internationalen Politik und Einbindung in den Ost-West-Gegensatz. ↩
[2] Anthony „Tony” Charles Lynton Blair ist ein britischer Politiker und mutmaßlicher Kriegsverbrecher. Er war von 1994 bis 2007 Vorsitzender der Labour-Partei sowie von 1997 bis 2007 Premierminister des Vereinigten Königreichs. Für die Beteiligung am illegitimen Angriffskrieg auf den Irak im Jahr 2003 wurde Tony Blair niemals angeklagt, obgleich nach internationalem Recht die Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Aggressionskriegs strafbar ist. Siehe hierzu: Klagt sie an! auf http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tony-blair-und-george-w-bush-sollten-angeklagt-werden-a-1102230.html sowie den 2016 veröffentlichten Bericht der Chilcot-Kommission zur britischen Rolle im Irak-Krieg auf https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20171123123237/http://www.iraqinquiry.org.uk (abgerufen am 05.02.2019). ↩
[3] Keith Rupert Murdoch (Jahrgang 1931) ist ein US-amerikanischer Medienunternehmer sowie Gründer, Vorsitzender und CEO der News Corporation. Eine relevante Zahl der global vertriebenen Medien soll unter seinem Einfluss stehen. ↩
[4] Koinzidenz ist ein zeitliches und/oder räumliches Zusammenfallen von Ereignissen oder auch ein Zusammentreffen von Objekten. ↩
Foto: Lidya Nada (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Der Brexit als Narrenspiel“
tolle entwirrung der widerstrebenden kräfte im gleichen system … welches sich daraus hoffnungsvoll folgernd = selbst zerstören wird >>> natürlich wahrscheinlich unter brutalst möglicher agression … bei der es wichtig, ist zwischen unterdrückungs- und BEFREIUNGSkräften zu unterscheiden … dies sind die EINZIGEN kriterien für eine orientierung!!!
gewaltFREIHEIT gibt es in kämpfen nicht! diese einsicht soll und muß in aller eindringlichkeit und konsequenz diskutiert werden … der vereiterte zahn muß mit gewalt gezogen werden – sonst sind tödliche schmerzen der preis – wobei das ziehen und schleifen gesunder zähne ein verbrechen ist … wie oft ist das völlig gleiche handeln im kontext konträr … oder dialektisch zu betrachten.
Wer denn bitte wäre ´Befreiungskraft´ welcher Menschen zu welchem Wie, Marie ?
Entfernung, Auslöschung bisheriger Unterdrücker wäre gleichzusetzen mit dem Ziehen eines vereiterten Zahnes ? Und dann wäre ein ansonsten todgeweihter Körper wieder frei weiterzuleben, eine Gesellschaft ´frei´ – noch einmal: zu welchem Wie?
…, das sich über welche (!) Strukturen jenseits alter Dominanz-Mechanismen aufbauen ließe?
Was sich da heute ´bösen´ Unterdrückern zuordnet, wäre nach deren Auslöschung einfach in den Händen von ´Guten´ ?