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Gesellschaft

Der Rat eines wohlmeinenden Chronisten

Die Tage des Karnevals und der Fastnacht haben gezeigt, mit welchem Unsinn sich die Republik beschäftigt und was tatsächlich eine Rolle spielen müsste.

Wenn die närrischen Katholiken sich das Aschekreuz auf die Stirn zeichnen lassen und an diesem Mittwoch die Zeit des Fastens beginnt, holen die Politiker in tradierten Aschermittwochsveranstaltungen noch einmal so richtig aus und vertreten ihre Positionen in polemischer Weise.

Der Rat – Streitet euch!

Dagegen sei nichts einzuwenden, denn wo Polemik ist, da ist auch Leben. Das ist deshalb wichtig, weil die Form des politischen Diskurses in diesem Land seit Langem einen Tiefpunkt erreicht hat.

Das Interesse an einer öffentlichen Auseinandersetzung um unterschiedliche politische Zielsetzungen ist erschreckend erloschen, unter anderem als Folge bräsig agierender großer Koalitionen und einer systematischen Domestizierung des Nachrichten- und Pressewesens. Deshalb, so der Rat eines wohlmeinenden Chronisten, streitet euch tüchtig, dann lebt die Demokratie.

Das Einzige, was diesem Wunsch im Wege stehen könnte, sind einerseits die Lethargie, die ein ebenso zielgerichteter wie einschläfernder Prozess der Entmündigung hervorgebracht hat sowie die genial inszenierte Irreleitung der Aufmerksamkeit auf Dinge, die politisch keine Wirkungsmacht haben.

Der ganze Zinnober, der im Felde einer politischen Korrektheit veranstaltet wird, lenkt von den Fragen ab, die politisch tatsächlich wichtig und existenziell sind. Gerade die hinter uns liegenden Tage des Karnevals und der Fastnacht haben gezeigt, mit welchem abseitigen Unsinn sich die Republik tatsächlich beschäftigt und was dagegen tatsächlich eine Rolle spielen müsste.

Belanglosigkeit, Stillstand, Dekadenz

Welcher Hahn, bitte schön, kräht heute noch nach dem Sound von Doppelnamen oder mit der souveränen Entscheidung der sexuellen Orientierung oder der gewählten Option von Vegetarismus, des Nicht-Rauchens oder der extremen Körperertüchtigung. Alles ist geregelt, alles kann von souveränen Individuen entschieden werden und nichts davon dürfte den politischen Diskurs durch seine tendenzielle Belanglosigkeit kontaminieren.

Aber gerade durch die praktische Irrelevanz im Diskurs erhitzter individueller Entscheidungen wird das Augenmerk von dem abgelenkt, um das es tatsächlich gehen muss. Es hat sich eine Art Symbolismus etabliert, der alle positiven Kräfte der Veränderung absorbiert und somit den gesellschaftlichen Stillstand, der mit zunehmender Beschleunigung auf den Status einer saturierten Dekadenz zustrebt, konserviert.

Solange es wichtiger ist, sich über die Helmpflicht für Radfahrer mehr zu echauffieren als über die Stationierung von atomaren Sprengköpfen an der russischen Grenze, solange es wichtiger ist, beim Kaffee mehr auf Fair Trade zu achten als bei der Herstellung von Smartphones aus Kinderarbeit, solange die EU-Zeitumstellung wichtiger ist als die zu erwartenden Folgen der Digitalisierung bei traditionellen Beschäftigungsformen und solange der Streit über eine immer noch hängende Reklame für den Sarotti Mohren die Gemüter mehr erregt als der Drohnenbeschuss einer Hochzeitsgesellschaft im Irak kann dieser Gesellschaft nur eines attestiert werden:

Sie hat das Gespür für das Wesentliche längst verloren und sich zu jenen Zivilisationen gesellt, die die Blüte längst hinter sich haben.

Es geht um alles

Wollen wir zuversichtlich bleiben, dann müssen wir diesem Spiel der kollektiven Camouflage ein Ende bereiten. Das versaut zwar die Stimmung, aber es ist die einzige Möglichkeit, zumindest die aufzuwecken, die noch nicht dem Zerebralschwund durch Fake News und Propaganda erlegen sind und in ihrem Innersten den Glauben an eine fortschreitende Zivilisation bewahrt haben.

Es geht, wie bei vielem, um alles.

Wer jetzt nicht stört, bereitet sich auf die ewige Ruhe vor.


Foto: Denys Nevozhai (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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