Wenn, „ausgerechnet“ untermalt mit Wagners „Lohengrin“, am Schluss des Films der jüdische Barbier, der für den großen Diktator gehalten wird, vor den organisierten Massen und Soldaten auf die Empore steigt, auf der „Liberty“ eingemeißelt ist, und seine Rede hält, dann sehen wir nicht mehr den Friseur, dann sehen wir Charles Chaplin selbst.
Durch einen gekonnten und immer wieder geprobten dramaturgischen Übergang von der tragischen Komödie, die sich zuvor vor unseren Augen abspielte, hin zu dieser Rede spricht der Weltstar zu uns – eine ernste, eine bittere, aber auch eine hoffnungsvolle Rede, selbst wenn man berücksichtigt, was nach Fertigstellung des Films in Deutschland, in Europa und dann in weiteren Ländern passierte. Gerade im Nachhinein wirkt diese Rede Chaplins so aktuell, so gar nicht überholt, obwohl das Tausendjährige Reich längst das Zeitliche gesegnet hat.
Diese Rede, die manche vielleicht für rührselig halten mögen, ist eben doch die Quintessenz des chaplin’schen Denkens, eines weltberühmten Mannes, vielleicht der einzige Mensch des 20. Jahrhunderts, der so bekannt wurde wie leider die Massenmörder Hitler und Stalin. Nein, rührselig ist das falsche Wort für diese Rede. Jedes Wort kam Chaplin aus dem Herzen und war von Verstand geleitet.
Viele hatten dem Künstler des Stummfilms, der hier einen Tonfilm hinlegte, wie man ihn noch nie gesehen hatte, abgeraten, eine Art tragische Komödie oder komische Tragödie über Hitler zu drehen. Die einen aus Furcht vor den Konsequenzen, die anderen aus politischem Kalkül (in Hollywood wurde in den 30er Jahren „untersucht“, wie viele Juden in der Filmindustrie beschäftigt waren! Manche wollten dem deutschen Diktator in den 30er Jahren nicht auf die Zehen treten, teilweise aus geschäftlichen, teils aus politischen Gründen) in Bezug auf „The Third Reich“.
Die Machthaber in Deutschland fürchteten die Komik wie der Teufel das Weihwasser, schon gar, wenn es um ihren „Führer“ ging. Und der große Rest wartete gespannt, wie Chaplin dem Diktator den Garaus machen würde.
Chaplin selbst hatte immer wieder Zweifel, ob er, der von den Nazis als „Jude“ tituliert wurde (was er nicht war, wogegen er sich allerdings auch nicht wehrte), den Film wirklich fertigstellen sollte. Konnte und durfte man über diesen Verbrecher lachen? Der Film lehrt anschaulich und trotz des damals noch nicht absehbaren Völkermords: Ja. Einer unter vielen riet Chaplin zu, den Film in die Kinos zu bringen: der amerikanische Präsident Roosevelt.
Schon einmal hatte sich Chaplin in „Moderne Zeiten“ mit einem „Großen“ mehr oder weniger deutlich angelegt: mit dem amerikanischen Industriellen Ford, einem glühenden Hitler-Anhänger, Antisemiten und Erfinder der Fließbandarbeit, einem industriellen System, dem man später den Begriff Fordismus verlieh.
Die biografische Parallele zwischen Chaplin und Hitler ist auffallend. Beide wurden im April 1889 geboren und beide nahmen einen unterschiedlichen, ja völlig konträren Weg zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Ersten Weltkrieg. Chaplin, der Anti-Nationalist, der Patriotismus für den Ausgangspunkt schrecklicher Verbrechen und von Ungerechtigkeit jeglicher Art ansah, wurde zum gefeierten und weltweit geliebten Filmstar, Regisseur und Komiker.
Hitler wurde zum devot verehrten Verbrecher, der bis zu seinem Aufstieg in der NS-Arbeiterpartei nur Niederlagen in seinem Leben eingesteckt, daraus allerdings nichts gelernt hatte – außer Judenhass und extremen Nationalismus. Im Jahr 1940 kulminiert also, wenn man so will, die Konfrontation von Komik und unermesslicher Tragik, von Menschlichkeit und unerklärlicher Brutalität in einem Film, der das NS-Regime nie und nimmer stürzen konnte, der aber die Herzen und den Verstand von Millionen Menschen erreichte.
In dieser Dialektik von Komik und Tragik, in der besonderen Fähigkeit Chaplins, in einem Film beides auf eine Art zusammenzubringen, die weder die Grausamkeit verniedlicht, noch der Komik einen bitteren Beigeschmack von Lächerlichkeit versetzt, liegt die Bedeutung dieses Films.
Schon in der Anfangsszenerie, in der der jüdische Friseur in der Endphase des Ersten Weltkriegs sich – auf typisch chaplin’sche Art – umsonst bemüht, die „dicke Berta“, eine Kanone in „Schuss“ zu bringen, zeugt von dieser Fähigkeit.
Der brutale (Stellungs-)Krieg bekommt sein komisches Fett weg. Chaplin tanzt verzweifelt um die Granate herum, die aus der Berta geplumpst ist, statt in Paris einzuschlagen, und die sich gegen ihn kehrt, indem sie sich immer wieder in seine Richtung dreht (eine Erinnerung an „Moderne Zeiten“, zweifellos; die Technik verselbstständigt sich und die Menschen stehen ziemlich dumm da). Dass der Barbier plötzlich im Nebel gemeinsam mit dem (englischen) Feind in einer Reihe marschiert, später im Schlamm landet und das Gedächtnis verliert, nachdem er den Kameraden Schultz kennengelernt hat, und jahrelang ohne Erinnerung und ohne Kenntnis der historischen Ereignisse bis 1933 in einem Krankenhaus verbringt, ist nicht nur dramaturgische Idee.
Es zeugt auch von Chaplins Fähigkeit, Menschen den Spiegel vorzuhalten, etwa nach dem Motto: Habt ihr nicht mitbekommen, was zwischen 1918 und 1933 passiert ist? Macht es denn noch einen Unterschied, ob einer das Gedächtnis verloren hat und sich plötzlich im Getto wiederfindet, oder ob andere die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben?
Da steht er nun, der jüdische Barbier, in seinem von Spinnweben durchzogenen Laden, und irgend so ein Soldat oder was auch immer malt die Buchstaben JEW auf seine Fensterscheibe. Das alles kulminiert in einer Szene, in der die SA ihn festnimmt und am Laternenpfahl aufhängt – bis Kommandeur Schultz, der Flieger aus dem Ersten Weltkrieg, der jetzt für den Führer Adenoid Hynkel und sein „neues“ Tomanien arbeitet, ihn gerade noch mal retten kann.
Auch in dieser Szene beweist Chaplin, wie eine vollkommen tragische Situation durch Komik „erlöst“ werden kann. Er tanzt, ja tänzelt zwischen den sich von beiden Seiten nähernden Sturmtrupps. Später verschwindet er vor einem ihn verfolgenden SA-Mann in typischer Stummfilmmanier durch ein Kellerfenster durch die Beine des verdutzten Mannes hindurch.
Chaplin zeichnet – trotz der bedrohlichen, ja lebensgefährlichen Situation – gerade das Getto als einen Hort von Menschlichkeit, Solidarität und Demokratie: im Verhalten der Nachbarn Jäckel, Mann und Agar und der schönen Hannah, der er eine zauberhafte Friseur verschafft, aber auch in einer Szene, in der er zur Musik von Brahms (Ungarischer Tanz Nr. 5) im Takt einen Kunden rasiert, oder auch in der berühmten Pudding-Szene, als Schultz, der sich inzwischen von Hynkel losgesagt hat, aus dem KZ geflohen ist und bei Jäckels versteckt lebt, von einem der Juden das Opfer fordert, sich als Attentäter zu betätigen.
In einem Pudding ist ein Geldstück versteckt. Wer diesen Pudding erwischt, muss sich für die Freiheit opfern. Keiner will das natürlich – und plötzlich tauchen mehrere Münzen auf – bis der Barbier drei oder vier Münzen nacheinander ausspuckt.
Immer wieder konfrontiert Chaplin diese Welt des menschlichen Miteinanders mit der des Diktators Hynkel, seines Feldmarschalls Herring (ein wunderschönes Wortspiel von Hering und Herr), seines Propagandaministers Garbitsch (garbage = Müll) und des „befreundeten“ Diktators Benzini Napaloni (auch hier wieder eine unumwundene Anspielung auf einen Möchtegern-Napoleon, der offensichtlich durch (zu viel) Benzin angetrieben wird, so auch die von Jack Oakie wunderbar dargestellte Person Mussolinis) aus Bacteria.
Wenn Hynkel spricht, wenn er „Wichtiges“ zu sagen hat, dann in einer von Chaplin erfundenen Kunstsprache, die einerseits das Harte, Unbarmherzige, Gnadenlose, gespickt mit einigen richtigen Worten wie „Sauerkraut“, auf komische Weise zum Ausdruck bringt – bis sich selbst die Mikrofone vor Angst, Abscheu und / oder Lachen biegen, eine Sprache, die andererseits aber auch die Leere der NS-Ideologie, die Haltlosigkeit ihrer Grundlagen zum Ausdruck bringt.
Redet Hynkel in verständlichen Worten, so kommt der perfide Mensch, der kleine Gauner, der zum größenwahnsinnigen Verbrecher geworden ist, der Kleinbürger und Feigling zum Ausdruck, etwa wenn er vor der berühmten Szene mit dem platzenden Globus den Fenstervorhang hinauf gleitet. Hynkel – das ist kein Schlitzohr, sondern ein hintertriebener Gangster, dem die Umstände in vielen Kleinigkeiten immer wieder andeuten, dass – trotz aller Verbrechen, die er begangen hat und noch begehen wird – sein Reich nicht von Dauer sein kann und wird. Aber diese misslichen Kleinigkeiten seines Lebens, diese Zeichen, kann er in seiner furchtbaren Verblendung und seinem Hass nicht deuten.
Ebenso verfährt Chaplin mit Göring, Herring, dessen geschwollene Brust mit 68 oder mehr Orden und Abzeichen besetzt ist. Als Hynkel Herring vor Wut sämtliche Kinkerlitzchen abreißt, dazu noch die Knöpfe seiner Uniform, kommen stinknormale Hosenträger zum Vorschein. Chaplin stutzt auch Göring auf ein normales Maß herunter. Die vermeintliche Erfindungsgabe Herrings – unbesiegbare Waffe, todsicherer Fallschirm – führt Chaplin in eine absurde Tragikomik: Die sich für diese Experimente zur Verfügung stellenden Versuchspersonen kommen um; die Szenerie bleibt dennoch dem Komischen vorbehalten.
Ebenso verfährt Chaplin mit Napaloni, schon, wenn der Diktator mit „Mama“, seiner Frau, auf dem Bahnhof eintrifft, der Zug vor und zurück rangiert und immer wieder der rote Teppich hin- und herverlegt werden muss. Denn Napaloni steigt nicht aus, wenn kein roter Teppich vor seinen Füßen liegt. Der dann vom Zaun gebrochene Streit zwischen den beiden Diktatoren um Osterlich (Österreich) gehört sicherlich zu den makabersten und zugleich komischsten Szenen des Films. Man könnte meinen, zwei pubertierende Knaben würden sich um einen Fußball oder Ähnliches streiten – bis beide Diktatoren sich in Friseurstühlen sich nach oben kurbeln und Hynkel plötzlich herunterfällt.
Schließlich – nachdem die Repressalien im Getto unerträglich geworden sind und Hannah und die Jäckels nach Osterlich ausgewandert sind – wird Hynkel beim Entenschießen und nach einem Sturz ins Wasser mit dem Friseur verwechselt und festgenommen, während der wirkliche Friseur nach dem Einmarsch in Osterlich als Hynkel empfangen wird. Es folgt die berühmte Chaplin’sche Rede.
Chaplin löst nicht nur das Grauen in Komik auf, ohne dass dabei das Grauen ins Lächerliche gezogen würde. Es bleibt stets präsent, wie ein roter Faden, an dem sich alle – aus unterschiedlichen Positionen: Täter und Opfer – entlang hangeln müssen. Auch die Pomp-Kultur des Dritten Reiches (unter deutlicher Bezugnahme auf Speer), den Größenwahn, die Zeichen und Symbole (etwa auch Riefenstahls „Triumph des Willens“ von 1935) und die Arroganz der Mächtigen werden ad absurdum geführt, ohne die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus zu verniedlichen.
So wäre es denn auch falsch, „Der große Diktator“ schlicht als Komödie zu bezeichnen. Dass Chaplin sich der Gefährlichkeit des Regimes vollständig bewusst war, auch wenn er sich sicherlich den Völkermord nicht vorstellen konnte, wird in jeder Sekunde des Films mehr als deutlich.
Erstaunlich ist schließlich, dass Chaplin, der große Meister des Stummfilms, mit diesem Film bewies, wie er sich auch im Tonfilm bewegen konnte, ohne seine vorherigen Arbeiten zu vergessen. In vielen Szenen des Films wird deutlich, wie stark Chaplin noch am Stummfilm und seinen – für ihn immer prägenden – Möglichkeiten orientiert war, und wie Slapstick u.a. im Tonfilm in keiner Weise als störend empfunden werden musste.
„Der große Diktator“ diente später auch anderen als Beispiel, etwa zuerst zwei Jahre später dem großen Ernst Lubitsch in „Sein oder Nichtsein“. Nichts fürchten Diktaturen mehr, als dass man über sie lacht. Darin liegt viel Wahrheit.
Informationen zum Film
Der große Diktator
USA 1940 – 125 Min.
Regie: Charles Chaplin
Drehbuch: Charles Chaplin
Darsteller: Charlie Chaplin, Jack Oakie, Reginald Gardiner
Produktion: Charles Chaplin
Musik: Meredith Willson, Charles Chaplin
Kamera: Roland Totheroh, Karl Struss
Schnitt: Willard Nico
Redaktioneller Hinweis: Die Rezension von Ulrich Behrens wurde beim untergrundblättle, einem Online-Magazin für kritischen Journalismus aus dem Großraum Zürich, veröffentlicht. Das untergrundblättle publiziert analytische und kontroverse Texte zu den Themenschwerpunkten Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie. Ein besonderes Augenmerk gilt dem kulturellen Teil. Der inhaltliche und redaktionelle Anspruch liegt unter anderem darin, Synergien innerhalb von linken Strömungen herzustellen. Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz von uns hervorgehoben. Wir danken dem untergrundblättle für die Zustimmung zur Veröffentlichung der Rezension auf Neue Debatte.
Foto: Rama (Own work; CC BY-SA 3.0 FR; cropped); Chaplins Uniform als Hynkel in “Der große Diktator”.
Ulrich Behrens ist ein Autor aus der Schweiz.
2 Antworten auf „Charles Chaplin – Der große Diktator“
Ja, er war ein ganz Großer unter den kleinen Männern. Er hatte ein noch größeres Gespür für den Puls seiner Zeit. Ab und an taucht wieder Eine oder Einer auf von den Unbestechlichen. Wir sollten noch ein wenig Geduld haben und uns weiter sammeln, denn den derzeitigen vermeintlichen Großen geht langsam der A. auf Grundeis. Wir werden langsam mehr – nur wie geht eine gesellschaftliche Veränderung, wenn bei vielen gelangweilten TV-Bürgern der Puls der Zeit nicht Zugang findet? Reicht es wirklich, daß der und die Einzelne vor der eigenen Türe kehrt?
Demos allein sind kein Widerstand gegen Systemkartionome. Die kanalisierten Reizüberflutungen blockieren weiterhin den gesunden Menschenverstand. Die Verrohung in vielen Bereichen nimmt weiter zu. Der konservative gutgläubige Michel ist in Schockstarre gefallen. Die Aufrüstung in Deutschland wird salonfähig gemacht und mit jahrelangen “gut” dosiertem Halbwissen-Wahrheiten, die meistens Falschmeldungen sind, gefüttert. Ihr wißt das ja eigentlich alle. Also was geht? Ich habe mich jetzt längere Zeit zurückgehalten, weil mir das Gejammere einiger besonders Mitteilungsbedürftiger auf die Nerven geht. Wir brauchen neben der oben genannten Geduld einen Treffpunkt, um uns als Menschen zu begegnen. Alle sollten mal darüber nachdenken und mal zum Praxisteil der Veranstaltung hier kommen. Doch solange das Geschreibe nur sich selbst dient, schmoren wir im eigenen Saft.
Allen einen unfallfreien und weiterhin stürmischen Sonntag.
Uwe Leonhardt
Als möglicher Treffpunkt böte sich zum Beispiel das Pax Terra Musica Friedensfestival an. Die Veranstaltung findet vom 25. – 28. Juli 2019 in Friesack statt. Informationen auf: https://www.pax-terra-musica.de