Die Botschaft der Stunde: Alles hängt mit allem zusammen. Das ist zwar ganz so neu nicht, denn irgendwann gab es einmal Pantheisten [1] und Universalisten [2], die hatten das auch in ihrem Weltbild. Doch nun hat die Erkenntnis, wie immer, wenn sie zeitgenössisch ist, eine ganz andere Qualität aus der Sicht derer, die sie erlangen.
Daher auch der immer ein wenig verschleiernd wirkende Satz, die Welt sei komplexer geworden und daher alles nicht so einfach, wie es sich der Kleingeist vorstellt. Wenn letzte Bemerkung mal nicht sehr einfach ist, doch das ist ein anderes Feld.
Komplexität im Mainstream
Diejenigen, die von der totalen Vernetzung der Welt und deren Komplexität sprechen, sind oft leider etwas sehr in Monokultur unterwegs. Ihre Komplexität reduziert sich auf die mittlerweile ins Binäre transformierte Welt. Dass daneben noch etwas anderes existieren könnte, wird mit ihrem Komplexitätsbegriff nicht abgedeckt.
Es ist Mainstream: Alles hängt mit allem zusammen und die Welt ist komplex. Doch worin besteht die Schlussfolgerung für diejenigen, die sich in diesem Mainstream wohlfühlen? Auch die Antwort ist Mainstream: Alles muss miteinander verbunden und der totale Datenfluss inszeniert werden. Was dann geschieht? Dann, so die wiederum daraus resultierende Erkenntnis, dann entstehen Möglichkeiten, von denen vorher niemand träumte. Auch das ist sicherlich ebenso richtig wie trivial.
Wenn alle Akteure auf der Welt miteinander verbunden sind, dann entstehen Partnerschaften, von deren Möglichkeit vorher niemand etwas ahnte. Man denke an den Bochumer Teppichdesigner mit seinem in Ehrenfeld von den Eltern übernommenen Laden für Orientteppiche, der jetzt wie ein Start-up-Labor für Free Art daherkommt und für den im fernen Nepal 1800 Menschen arbeiten. Wie gesagt, alles ist möglich. Teilweise überzeugt es, teilweise berauscht es, teilweise ändert es jedoch gar nichts.
Wer bezahlt für was?
Wenn alles mit allem verbunden ist und auf der einen Seite die Kreativität quasi aus den Nähten platzt, auf der anderen Seite aber archaische Arbeits- und Besitzverhältnisse bleiben und die Nähte von schwieligen, unterernährten Kinderhänden gezogen werden, darf es gestattet sein, das gesamte Design der schönen neuen Welt auf bestimmte, existenziell entscheidende Dinge hin zu hinterfragen. Und lassen wir diese Fragen einfach einmal im Raum stehen und auf uns wirken.
Wer jetzt alle Antworten parat zu haben glaubt, sollte der Skepsis aus reinem Realitätssinn etwas mehr Raum zugestehen. Wer vernetzt wen in welchem Interesse? Wem gehören die Netze? Zu wem gehen die Daten? Und wer bezahlt für was? Machen Sie bitte das Spiel, versuchen Sie die Fragen zu beantworten und lassen das Ganze auf sich wirken!
Kolonialismus für jedermann
Schwenk zurück! Das, was als krass modern daherkommt, die Möglichkeit der totalen Vernetzung, ist, wie bereits angedeutet, nicht so modern, wie es daher kommt. Alle, die sich an den Rändern ihrer eigenen Sozialisation aufgehalten haben, kennen die Arrangements, auf die jeder eingehen muss, wenn er mit fremden Lebenswelten konfrontiert ist.
Verknüpfungen werden hergestellt, Kompromisse gemacht und – im besten Fall – ein Zusammenleben ermöglicht. So waren auch die Kolonisten [3] unterwegs, von der Haushaltsführung bis zur Kulturentwicklung. Das, was uns gegenwärtig die globale Digitalisierung ermöglicht, geht in die gleiche Richtung.
Provokativ könnte es bezeichnet werden als die radikale Demokratisierung der Möglichkeiten, oder, um es politisch zu würzen, eine Art Kolonialismus für jedermann.
Quellen und Anmerkungen
[1] Der Ausdruck Pantheismus oder Pantheïsmus steht für die Auffassung, dass Gott eins ist mit dem Kosmos und der Natur. Das Göttliche wird also im Aufbau und in der Struktur des Universums gesehen, und es existiert demnach in allen Dingen und beseelt alle Dinge der Welt. Das Göttliche ist mit der Welt identisch und folglich ist kein persönlicher oder personifizierter Gott vorhanden.↩
[2] Universalismus bezeichnet in der Philosophie eine Anschauung, die den Anspruch erhebt, die Vielfalt aller Wirklichkeit des Ganzen auf ein einzelnes Prinzip oder Ordnungsgesetz zurückführen zu können. Daraus wird zwingend abgeleitet, dass Ideen, Ideale, Rechte und Pflichten grundsätzlich für alle Menschen gelten müssen. ↩
[3] Kolonialismus ist die meist staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien sowie die Unterwerfung, Vertreibung und/oder Ermordung der ansässigen Bevölkerung durch eine Kolonialherrschaft. Diese wird von Kolonialisten ausgeübt. ↩
Foto: Renato Ribeiro Silva (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Komplexität als Kolonialismus für jedermann“
Ja, ein guter Ansatz zum Reflektieren der Zustände. Auch die Fragen sind gut: “Wer vernetzt wen in welchem Interesse? Wem gehören die Netze? Zu wem gehen die Daten? Und wer bezahlt für was?”
Leider fehlt die alles enscheidende Frage: Gibt es irgendetwas um diejenigen Massenmenschen zu ändern, die diese Zustände problemlos akzeptieren und sich darin einrichten, weil es genau diese Zustände sind, die ihr Leben angenehm macht? Wie sie sehr richtig anmerken, auf Kosten Fäden ziehender Kinder
Sie waren in Indonesien? Gut, es ist auch bei mir lange her, aber sicher sehen sie auch von DE aus, dass sich dort herzlich wenig ändert, weil die dortige “Kultur” und der Islam keine Änderungen zulassen wollen. Dass die perversen Massaker Mitte der 60er, wie nahezu alles an Riesen Sauereien auf dieser Welt von den Amis, bzw der CIA ermöglicht und organisiert worden sind, wäre gerade heutzutage, etwas an die Leute erinnert werden sollten. Statt dessen darf eine widerliche vdL mit Milliarden aufrüsten um die USA zu finanzieren….
Es fehlt also schlicht und einfach an Eigenverantwortung, wohin man auch schaut, oder?
Und noch eines… kein Mensch interessiert sich wirklich für Ausreden. Etwas wird entweder getan, oder nicht. Es ist fast erstaunlich, dass ausgerechnet im ehemaligen Nazi-Land diese Einsicht so wenig Verbreitung gefunden hat. Aber so sind sie halt, die Spiessbürger von links und rechts…
Bitte meinen Namen beim obigen Beitrag ergänzen!
Danke