Zunehmend treffe ich auf Menschen, denen die Rolle der Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse zu wenig geworden ist. Sie wollen aktiv werden, weil sie glauben, dass wir alle an einem Punkt angekommen sind, wo es darauf ankommt. Alles, was jetzt geschieht, kann sehr stark auf die zukünftige Entwicklung wirken.
Unabwägbarkeiten und Selbstbewusstsein
Das, was viele nervös macht, ist die hohe Anzahl der sogenannten Imponderabilien, der Unabwägbarkeiten. Sicher scheint zu sein, dass, sollten wir nicht sehr gut aufpassen, sich sehr vieles zum schlechteren entwickeln kann. Dennoch wäre es falsch, nur vom möglichen Untergang zu sprechen.
Aufgrund der letzten Jahrzehnte ist nur vielen das Selbstbewusstsein abhandengekommen, das in historisch relevanten Augenblicken so wichtig ist. Gut wiederum ist, dass sich die Erkenntnis breitmacht, jetzt etwas tun zu müssen.
Da die gegenwärtige Parteienlandschaft vieles abdeckt, was an Weltsicht und Interpretation derselben möglich ist, könnte davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die sich jetzt engagieren würden, dort auch ein Zuhause fänden. Das ist jedoch, nach Aussage vieler, die neu ins Spiel kommen wollen, nicht der Fall.
Die nahezu kollektive Kritik derer, die ins politische Spiel kommen wollen, richtet sich gegen die Strukturen der existierenden Parteien und die Form des Rituals, das aus dem regelmäßigen Wettstreit um die Gunst der Wählerinnen und Wähler geworden ist. Und zudem, so lautet der Vorwurf, sind die Parteien im Innern zumeist die Reproduktion einer Hierarchie, die gerade im Großen aufgebrochen werden soll. Beispiele aus selbstzerstörerischen Machtkämpfen innerhalb der gegeneinander antretenden Parteien kennt jeder, und die stammen nicht aus idyllischen Familienalben.
Die Zukunft an politischer Partizipation
Von einem Entwurf, wie er im benachbarten Frankreich entstanden ist, sind wir jedoch weit entfernt. Der Versuch, dort hinzukommen, ist kläglich gescheitert, und wenn ich die Schadenfreude darüber lese, dann habe ich Zweifel, ob die Notwendigkeit einer Mobilisierung vieler bis jetzt passiver Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht tatsächlich als Störung des laufenden Parteiengeschäfts empfunden und dementsprechend von dieser Seite bekämpft wird. Und wenn das so ist, dann drängt sich der Schluss auf, dass Parteien in dieser klassischen Form nicht das sein werden, was die Zukunft an politischer Partizipation braucht.
Was die Disposition derer betrifft, die etwas verändern wollen, so sind dort zwei Modellierungen wesentlich. Während die eine a priori darüber räsoniert, in welchen Strukturen sie dieses tun will, macht die andere sich in erster Linie darüber Gedanken, um welche Themen es geht, wie ein Standpunkt entwickelt werden kann und welche Diskurse dazu notwendig sind. Insofern handelt es sich auch hier – wie immer und überall – um den Klassiker, wo der Schwerpunkt liegt: in der Struktur oder im Programm?
Erkenntnisse erlangen
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Klarheit im Kopf die Voraussetzung für eine wirksame politische Partizipation ist. Da ist es zunächst unerheblich, in welcher Form das geschieht. Letzteres wird dann zur Frage, wenn es darum geht, gute politische Ideen zu materialisieren.
Gerade bei dieser Frage jetzt in Hektik zu geraten ist ein Verhalten, das jedem Apparatschik [1] auf den Leib geschnitten ist und jedem von ihnen freisteht, jedoch die Relevanz liegt derzeit woanders. Es sind Aufgaben, die relativ einfach formuliert, aber dennoch schwer zu erfüllen sind. Worum geht es? Was sind die wichtigsten Herausforderungen? Wie sehen Lösungsmöglichkeiten aus? Und dann, ja dann, kommt da: Was tun?
Die intelligenteste Form ist jedoch die, etwas zu tun, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, und zwar über Programm wie Struktur.
Quellen und Anmerkungen
[1] Apparatschik („Person des Apparats“) ist ein aus dem Russischen stammendes Lehnwort für einen bestimmten Typus eines Bürokraten oder Funktionärs. Laut dem französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu (1930-2002) wird ein Apparatschik vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sein zentrales (oder gar einziges) soziales Bezugssystem der organisatorische Apparat selbst ist, dem er seine Stellung in der Gesellschaft verdankt. ↩
Foto: Marija Zaric (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.