Der Spiegel berichtet über eine Studie des Sozialpsychologen Oliver Deckert, der sich mit der Psychostruktur von Rechtsradikalen in Deutschland befasst hat. Die Quintessenz deutet auf einen starken Drang nach Unterordnung hin, was dem Bericht auch den Titel gab [1].
Die Massenpsychologie des Faschismus
Das ist sicherlich interessant, aber nun wirklich nichts Neues. Wer das viel pointierter und knalliger lesen will, der möge sich noch einmal die „Massenpsychologie des Faschismus“ des so schillernden und tragischen Wilhelm Reich [2] beschaffen. Darin steckt mehr Essenz als die Reduktion menschlichen Verhaltens in Bezug auf bestimmte Stimuli. Es ist der gelungene Versuch, das Konzept der faschistischen Massenmobilisierung in Bezug auf menschliche Grundmuster zu dechiffrieren. Derartig radikale politische Ansätze sind allerdings in den gegenwärtig praktizierten Wissenschaften nicht en vogue.
Was mich bei dem erwähnten Artikel allerdings stört, das ist diese leicht arrogant näselnde Art, in der über die untersuchten Objekte berichtet wird. Nicht, dass vieles nicht zuträfe. Aber die Erzählung wird unterbreitet mit einer Note, die besagt, dass hier die kritische reflektierte Leserschaft versammelt ist und sich dort die deutsch-nationalen Dumpfbacken tummeln, die nichts kapieren.
Es wäre dagegen ein Anlass für Freudenfeste, wenn daraus so etwas wie eine selbstkritische Reflexion resultierte, die versuchte, psychologische Wirkungsweisen von Unterdrückung auch auf andere Lebensbereiche auszudehnen.
Unterordnung und die Rede an den kleinen Mann
Was vielleicht kryptisch daherkommt, ist die einfache Überzeugung, dass gerade der Drang nach Unterordnung, der bei den Rechtsradikalen vielleicht psychopathologische Dimensionen annimmt, ebenso ein Massenphänomen in der heutigen bundesrepublikanischen Gesellschaft ist. Wo wird denn gegen die Positionen der Obrigkeit öffentlich gestritten, wo wird das Recht auf Dissens in einem urdemokratischen Sinne gelebt?
Das Gerede von der Alternativlosigkeit wird seit langer Zeit hingenommen, die Narrative für eine schlechte Politik, die mit Feindbildern und verquasten Dogmen arbeiten, erhalten kaum Widerspruch. Wer es dennoch wagt, der ist schnell geächtet und landet bezüglich seiner gesellschaftlichen Reputation schnell an Rändern, zu denen er nicht gehört.
Distanziert betrachtet hat der medial vermittelte gesellschaftliche Konsens etwas Inquisitorisches erhalten. Und kommen wir einmal auf die eingangs erwähnte Studie zurück, so haben wir es hier, im Moment, eher mit dem zu tun, was der ebenfalls bereits zitierte Wilhelm Reich so vortrefflich in seiner „Rede an den kleinen Mann“ beschrieben hatte: ein Phänomen der Massenunterwerfung, das den Faschismus erst möglich gemacht hat.
Das Überlegenheitsgefühl des Kleinbürgers
Dieses selbstgefällige Wursteln zwischen der gefühlten eigenen Benachteiligung und der vermeintlichen Überlegenheit über andere, noch kleinere Würstchen. Genau das ist der Tenor des Artikels. Und somit ein alarmierendes Symptom für die existierenden Bewusstseinsströme. Ein Bericht über das psychische Elend einer politisch radikalisierten Gruppe wird benutzt, um an das Superioritätsgefühl [3] des Kleinbürgers zu appellieren, der seinerseits genauso zu beklagen ist wie die untersuchte Zielgruppe.
Es wäre an der Zeit, sich genauer die Mechanismen anzusehen, die bei der gegenwärtigen Durchdringung der Gesellschaft durch einen unkritischen Mainstream wirken. Die Institutionen, die dabei eine Rolle spielen, sind bekannt. Die Wirkungsmechanismen im Innern derer, die an der Nase herumgeführt werden, das Spiel aber mitspielen, müssen von Interesse sein.
Und, lesen Sie noch einmal Wilhelm Reichs „Rede an den kleinen Mann“! Das hilft gegen die Arroganz!
Quellen und Anmerkungen
[1] Spiegel Online (12. März 2019): Rechtsradikale und ihre Psyche – “Die Sehnsucht nach Unterordnung ist stark”. ↩
[2] Wilhelm Reich (1897-1957) war ein österreichisch-US-amerikanischer Soziologe, Arzt, Psychiater und Psychoanalytiker. Er entdeckte Zusammenhänge zwischen psychischen und muskulären Panzerungen und entwickelte die Therapiemethode der Psychoanalyse weiter zur Charakteranalyse und diese zur Vegetotherapie. Letztere gilt als Grundlage für verschiedene später begründete Körperpsychotherapien. Er widmete sich parallel mikrobiologischen Forschungen. Das Essay “Rede an den kleinen Mann” erschien 1945. Darin beschreibt Reich seine libertär-sozialistische politische Philosophie und insbesondere seine Ansichten über direktes Handeln beziehungsweise direkte Aktion als einziges Mittel der Arbeiterklasse zur Befreiung. Es wurde 1948 von Theodore Peter Wolfe ins Englische übersetzt und unter dem Titel Listen, Little Man! verbreitet. Ein Auszug des Textes wurde zum Beispiel auf www.listenlittleman.com veröffentlicht. ↩
[3] Superiorität bezeichnet eine übergeordnete Stellung, Erhabenheit oder Überlegenheit. Der Gegenbegriff ist Inferiorität. ↩
Symbolfoto: Martin Sanchez (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Unterordnung – Das Superioritätsgefühl gegenüber noch kleineren Würstchen“
Lieber Herr Mersmann,
ich forsche seit langem zu Reich (und schreibe, wie Sie, gelgentlich für rubikon). Mit Ihrer Einordnung von Reichs Erkenntnissen zur aktuellen Situation kann ich gut mitgehen.
Vielleicht interessiert Sie auch das Folgende.
Im Januar erscheint im Psychosozial-Verlag Gießen erstmals wieder nach 87 Jahren der (redigierte) 1933er Originaltext von Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/ein-marxistischer-psychoanalytiker-juedischer-herkunft-erlebt-das-ende-der-weimarer-republik/
In der letzten Woche habe ich Auszüge daraus als Hörbuch zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt:
https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/hoerbuch-wilhelm-reich-massenpsychologie-des-faschismus-1933/
Herzliche Grüße
Andreas Peglau