Ein Bekannter, der sich in den letzten Monaten in verschiedenen asiatischen Ländern aufgehalten hatte, schilderte seine Eindrücke über die Berichterstattung der Ereignisse, die sich hier in Europa zutrügen. Das Schlimmste, was er in den dortigen Medien erlebt habe, seien die Berichte über die französischen Polizeieinsätze gegen die eigene Bevölkerung gewesen.
Die Idee von Europa diskreditiert
Immer wieder sei er gefragt worden, was denn in Europa bloß los sei, dass eine Regierung dermaßen ungezügelt gegen das Volk vorgehe. Und tatsächlich hätten die Bilder, die er dort gesehen hätte, dieses Entsetzen unterstützt.
Ich frage mich, was das geschilderte Szenario wohl bei denen auslösen würde, die sich momentan im Europa-Wahlkampf befinden? Bei den Mitgliedern der Regierung bin ich mir ziemlich sicher. Sie hätten sehr schnell Begriffe wie Fake News im Mund und würden versuchen, die großen, massenhaften Proteste gegen eine Politik, die sehr viel mit dem zu tun hat, was die Europa-Idee bis auf die Grundmauern diskreditiert hat, einfach zu verharmlosen oder gar zu leugnen.
Täglich ist zu erleben, wie die Proteste gegen eine Europa zerstörende Politik entweder instrumentalisiert oder ignoriert werden. Gestern war wieder so ein Tag, der den Zweifel über die Unparteilichkeit der Medien ausräumte: Während die Demonstrationen in Großbritannien für den Verbleib in der EU großen Raum einnahmen, fand der Militäreinsatz in Paris gegen die seit Monaten anhaltenden Massenproteste kaum Beachtung.
Dreistigkeit mit gefährlichen Zügen
Einmal abgesehen davon, dass der Brexit auch eine Reaktion auf eine europäische Politik ist, die vor allem darauf ausgerichtet war, den militärisch-industriellen Komplexen in Deutschland und Frankreich wie dem Finanzsektor in Großbritannien zu großen Zuwächsen zu verhelfen, während andere Länder und Regionen verarmten, ist das Ausmaß der Proteste gegenwärtig in Großbritannien wie Frankreich im Maßstab zur Nachkriegsentwicklung, also seit 1945, beispiellos.
Nie gab es gegen eine Wirtschaftspolitik und deren Auswirkungen derartig massenhafte und nachhaltige Proteste. Wenn man so will, erlebt Frankreich gerade seinen 17. Juni. Und das unter der Regierung eines hierzulande als europäischer Hoffnungsträger titulierten Präsidenten.
In diesem Zusammenhang eine kritische Perspektive als Populismus zu bezeichnen entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit, die gefährliche Züge trägt. Das Dramatische an dieser Denkfigur ist die eigene Verblendung. Da sich die argumentativen Chiffren nie ändern, ist davon auszugehen, dass ein gehöriger Teil der für das Desaster Verantwortlichen sich darauf geeinigt hat, dass die Kritik am Zustand des gegenwärtigen Bündnisses nichts anderes sei als das Werk von Populisten und Demagogen.
Und, so hört man täglich aus prominentem Munde, dass zwar vieles kritisch sei, aber längst nicht so kritisch, wie behauptet. Und selbstverständlich liege die Lösung in einem Weitermachen wie bisher, was immer wieder in der Formulierung vom notwendigen Mehr statt Weniger Europa gipfelt.
Die Vereinigte Staaten von Europa
Sie sind verblendet und sie sind verbockt und sie wollen auf keinen Fall in die Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand gezogen werden. Deshalb wird dieser beschönigt. Und wie von Zauberhand erscheint plötzlich zunehmend der Begriff der Vereinigten Staaten von Europa. Doch das ist etwas anderes als das, was in den letzten Jahren propagiert wurde.
Vereinigte Staaten von Europa beinhalten eine klare Linie der Souveränitätszuordnung. Das ist das, was heute wahrscheinlich die große Mehrheit der 500 Millionen Europäerinnen und Europäer wollen. Es ist die letzte Option, die auf dem Tisch liegt. Sie denen zu überlassen, die den jetzigen Zustand zu verantworten haben, wäre unverzeihlich.
Symbolfoto: Averie Woodard (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Europa aktuell – Das Dramatische ist die Verblendung“
Meine Ideen, die Problemlagen ein Stück weit aufzuräumen, findet Ihr bei Interesse hier:
https://diskursblickwechsel.wordpress.com/2019/04/06/wie-geht-planeten-tauglichkeit-menschheits-kultur-im-21-jh/
bzw. auch als PDF: http://buergerbeteiligung-neu-etablieren.de/0-DEBATTENRAUM-D/WIE%20GEHT%20PLANETEN.pdf
Was meint Ihr: eher Spinnerei oder irgendwo aussichtsreich ?
Ohne Visionen geht sowieso nichts. Varufakis ist es nicht gelungen, die hoffnungsvolle Linke der Mittelmeeranrainer über Portugal bis hoch nach Irland zu einen, um einen politischen solidarischen Wechsel herbeizuführen. Er wurde genauso genarrt, wie wir Ossis zur Wende mit der DM. Sofort hatten die meisten von uns die Idee einer demokratischen Erneuerung der DDR gegen die starke Währung verraten.
Gabriele Weis, Ihre (deine) recht gut ausgearbeiten Ideen sollten bei einem kleinen Wochenende- Kongress diskutiert werden dürfen. Das wäre doch mal ein Anfang. Wer hat denn hier überhaupt ein Interesse, an richtig persönlichem Austausch? Da die meißten unter uns sicher sehr eingespannt sein dürften, wird es wohl schwer werden, viele unter einen Hut zu bekommen. Aber versuchen sollten wir es. Die Mitte Deutschlands ist eine Reise wert.
Ihnen/Euch allen einen schönen Sonntag!
LG Uwe