Ein Mantra, das sich verbreitet hat, lautet, die Welt sei zu komplex geworden, als dass sie einfache Antworten zulasse. Dagegen ist generell nichts zu sagen, denn jede Erscheinung, die mit unterschiedlichen Kausalitäten verbunden ist, sich in einem Netz von Interdependenzen [1] befindet, muss gründlich analysiert und differenziert beurteilt werden. Was nicht dazu passt, ist die Tendenz der zunehmenden Verarmung der Texte.
Mangelnde Struktur und Ordnung
Nicht, dass es auch Texte gäbe, die schwer zu lesen oder gar unlesbar sind. Es sind jedoch zumeist Konvolute mangelnder Struktur, die als Symptom einer wachsenden Unfähigkeit gelten müssen, gut strukturierte, gedanklich geordnete und sprachlich interessante Schriftstücke zu verfassen. Der Rückschluss ist beklemmend:
Die Welt wird komplexer und die Fähigkeit, sie darzustellen, schwindet.
Die Suche nach Ursachen ist nicht schwer. Immer weniger wird von den Menschen, die in den komplexen Strukturen tätig sind, verlangt, dass sie in der Lage sind, die besagten Zusammenhänge schriftlich darzustellen. Stattdessen hat sich ein Modus breitgemacht, der gerade auf die unzulässige Vereinfachung abzielt.
Statt wohldosierter Sätze sind Skizzen, Bilder oder einfache Formeln gefragt, die die besagte Komplexität vereinfachen sollen. Dass gerade diejenigen, die sich auf die Komplexität der Welt berufen, genau dieser Fährte folgen, macht sie nicht glaubwürdiger.
Fragmente und Emojis
Ist es tatsächlich so einfach, die Reduktion der verschriftlichten Komplexität auf die zunehmende Kommunikation im Maschinenmodus zurückzuführen? In Ansätzen sicherlich.
Wenn bereits junge Menschen, die erlernen sollten, mit welchen geistigen Werkzeugen sie die Welt erfassen und mit denen sie sich ausdrücken können, nicht mehr darin gefordert werden und es stattdessen zum Alltagsmodus gehört, in fragmentierten Sätzen, gespickt mit Emoji, zu kommunizieren, kann nicht vorausgesetzt werden, sich mit komplexen Texten auseinanderzusetzen zu können.
Es geht hier nicht um die Hegelsche Rechtsphilosophie [2], aber ein Roman wie Umberto Ecos Foucaultsches Pendel [3] sollte es schon sein. Und diejenigen, die den politischen Diskurs via Amt führen, sollten auch das können, aber auch noch mehr.
Plädoyer
Neben der abnehmenden Sprach- und Schreibkompetenz ist zudem zu beklagen, und das ist interessanterweise ein breiter Konsens, dass es dem gesellschaftlichen Diskurs an Narrativen mangelt. Es geht darum, dass Geschichten gewoben werden, die von allen verstanden werden und die die Probleme fokussieren, an denen sich eine Gesellschaft abarbeitet.
Politische Kommunikation kann nur dann gelingen, wenn alle wissen, worüber geredet wird und wenn sich ein gemeinsamer Wille entwickelt, an einer Strategie zu arbeiten. Es bedarf der Fähigkeit, diese Geschichten zu weben. Mit bloßen Statistiken und Grafiken ist das nicht zu leisten.
Die hohe Kunst der Erzählung ist es, anhand einfacher Dinge und Begebenheiten die Komplexität der menschlichen Existenz zu verdeutlichen
In der Vergangenheit konnten das einige. Das ganze Ensemble der europäischen Realisten gehörte dazu, ebenso die großen russischen und amerikanischen Erzähler. Sie trugen dazu bei, den Menschen sowohl ihre Epoche zu erklären, ihnen zu verdeutlichen, worauf es ankam und was dem Gestaltungswillen der Menschen unterlag, als auch zu beschreiben, welche menschlichen Aporien nicht einfach durch welche Maßnahmen auch immer aufzulösen sind. Sie trugen dazu bei, auch die politische, die gesellschaftliche Kommunikation in ihren Kultur- und Zivilisationsräumen aufrechtzuerhalten.
Erzählung
Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Erzähler von der Bildfläche verschwunden. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Politik. Es ist an der Zeit, dem restringierten [4] Maschinencode wieder etwas entgegenzusetzen. Es ist ein Plädoyer für die humane Erzählung.
Quellen und Anmerkungen
[1] Der Begriff Interdependenz steht für wechselseitige Abhängigkeit (Dependenz). “Soziale Interdependenz” bedeutet, dass Menschen aufeinander eingestellt und angewiesen sind in ihrem Dasein. Beeinflussen sich ökonomische Variablen wechselseitig, wird in der Wirtschaftstheorie ebenfalls von Interdependenz gesprochen. ↩
[2] Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie ist eine Schrift von Karl Marx aus den Jahren 1843 und 1844. Sie besteht aus einer Kritik des Hegelschen Staatsrechts, die 1927 erstmals veröffentlicht wurde. ↩
[3] Ein Foucaultsches Pendel ist ein langes, sphärisches Pendel mit einer großen Pendelmasse. Durch dieses lässt sich ohne Bezug auf Beobachtungen am Himmel die Erdrotation nachweisen. ↩
[4] Restringieren bedeutet einschränken beziehungsweise beschränken. ↩
Foto: Fausto García (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.