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Meinung

Die kurze Formel der Selbstzerstörung

Der allgegenwärtige Schrei nach absoluter Transparenz ist das Indiz für ein nicht mehr vorhandenes Vertrauen.

Kurze Formeln sind dazu geeignet, Dynamik ins Spiel zu bringen. In der Regel werden sie der tatsächlich angetroffenen Komplexität nicht gerecht.

Die Formel

Diejenigen, die die tatsächliche und umfassende Darstellung eines Zusammenhangs bevorzugen, werden sich immer gegen eine kurze Formel wehren. Letztere wiederum besticht dadurch, dass sie das Gros der Erscheinungen knackig auf den Punkt bringt. Das schätzen in der Regel diejenigen, die weiter handeln und schnell verändern wollen. So, wie es aussieht, sind durchaus Allianzen feststellbar. Konsolidierer, Tüftler und Statiker verbünden sich mit der umfassenden und detaillierten Darstellung. Innovatoren, Veränderer und Dynamiker bevorzugen die kurze Formel.

Als die DDR noch existierte und ich dort den Verwandten einer Freundin besuchte, fiel mir einiges auf, was zwar funktionierte, aber so gar nicht der offiziellen Lesart der Verhältnisse entsprach. Es handelte sich in der Regel um praktischen Tausch und allerlei inoffizielle Hilfskonstruktionen, teils in realer Valuta, teils durch archaischen Handel vergolten.

Als ich meine Frage stellte, wie das wirtschaftliche System denn nun funktionierte, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Wenn jeder jedem was klaut, kommt keinem was weg.

Als Freund der Formel war ich begeistert, brachte sie doch vieles, was ich gesehen hatte, auf einen Nenner und erklärte zudem gleich die – zugegeben etwas zynische – Begründung, warum dieses funktionierte.

Identität und Vertrauen

Die DDR ist Geschichte und vieles, was über sie geschrieben wurde und wird hat immer noch das Stigma dessen, was im Kalten Krieg Revanchismus genannt wurde.

Die Ideologie, auch und gerade nach 1990 die des Westens, sitzt der Geschichte noch zu sehr im Nacken, als dass sich Erkenntnisse Raum verschaffen könnten, die nach vorne wiesen. Die Formel des Freundes jedoch blieb mir immer positiv in Erinnerung. Seitdem versuche ich immer wieder, Formeln zu finden, die aktuelle Phänomene beschreiben und ähnlich genial sind. Es ist nicht einfach, aber die Übung alleine hat einen epistemologischen [1] Wert!

Und bezogen auf das aktuelle Kommunikationszeitalter, mit seinen Identitäts- und Vertrauenskrisen, fiel mir gleich eine Formel ein, die zumindest so ähnlich klang. Ob sie das Problem tatsächlich annähernd trifft, mag die Leserschaft beurteilen: Wenn jeder jedem misstraut, haben alle recht.

Selbstzerstörung

Es geht bei der Formel nicht um die alles triggernde Ökonomie, sondern um das Ergebnis derselben in der technischen Sphäre der Kommunikation.

Der allgegenwärtige Schrei nach der absoluten Transparenz ist das Indiz für ein nicht mehr vorhandenes Vertrauen. Das wurde zerstört in Institutionen wie durch handelnde Personen, es ist das Ausmaß der kulturellen Krise schlechthin.

Jede Meldung, die gesendet wird, ob aus einem Medienhaus, aus dem Munde eines Politikers oder einem oppositionellen Organ, wird auf ihren intentionalen Doppelcharakter untersucht. Erstens: Was ist die Botschaft und was soll sie bewirken? Zweitens: Wenn es eine Falschbotschaft ist, was sagt sie aus und was soll sie bezwecken?

Der allgegenwärtige Vertrauensverlust hat dazu geführt, dass das Misstrauen die alles beherrschende Regung ist und lediglich das Vertrauen in das eigene Handeln noch Bestand hat. Folglich haben alle recht, wenn sie ihr eigenes Handeln begutachten, kommen aber zu dem Schluss, dass alle anderen falsch liegen oder Böses im Schilde führen.

Wenn jeder jedem misstraut, haben alle recht. Ja, es ist eine Formel. Und ja, es ist ein Symptom der Selbstzerstörung.


Quellen und Anmerkungen

[1] Épistémologie wird als Begrifflichkeit synonym für Erkenntnistheorie verwendet. Es ist zu verstehen als Teilgebiet der Philosophie, das sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen befasst, aber auch, was Wissen zu wissenschaftlichem Wissen macht.


Foto: Annie Spratt (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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