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Gesellschaft

Auf der Suche nach Identitäten

Um die Suche nach Identitäten zu vereinfachen, kann es nützlich sein, die eine oder andere Übung zu meistern.

Vor vielen Jahren, quasi in einem anderen Leben, arbeitete ich einige Zeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Das Eigenartige dabei war, dass diejenigen, denen ich die deutsche Sprache beibringen sollte, als Deutsche galten. Sie nannten sich Spätaussiedler und kamen aus dem damals noch existierenden Ostblock, vornehmlich aus der Sowjetunion, Polen, Tschechien und Rumänien, nach Regierungsabkommen mit den dortigen Staaten in die Bundesrepublik. Aber darum geht es hier nicht.

Die Übung

Es geht vielmehr um eine Übung, die ich mit den zumeist erwachsenen Schülerinnen und Schülern gerne machte. Sie bekamen die Aufgabe, gleich einem Lexikon-Eintrag, heute wäre es ein Wiki-Text, ihre Stadt oder Region vorzustellen. Das konnte entweder die Gegend sein, aus der sie kamen, oder eben der neue Ort, an dem sie nun lebten. Als sprachlich-stilistische wie gedankliche Übung eignete sich diese Aufgabe sehr gut, um zu sehen, wie umfassend bereits Kompetenz vorhanden war oder auch nicht.

Ich erinnere mich an eine jener Übungen bis heute, weil sie sehr viel aussagte und sich eigentlich für ein Satire-Programm geeignet hätte. Ein Teilnehmer, den die anderen immer ein bisschen fürchteten und über den sie sich gleichzeitig auch gerne lustig machten, las seinen kurzen Text vor, als ich ihn fragte, was er denn geschrieben habe. Sein Beitrag war kurz und bündig: „Früher war Hindenburg eine schöne Stadt. Dann kam der Pole und hat alles versaut.“

Bis heute erzähle ich die Geschichte gerne, weil sie vieles so fürchterlich auf den Punkt bringt. Zum anderen benutze ich sie, um meine Gesprächspartner dazu aufzufordern, doch die gleiche Übung einmal selbst zu machen. In Zeiten, in denen sehr viel über Identität und den Verlust derselben geredet wird, ist das höchst anregend. Denn ganz so, wie auf der Meta-Ebene kolportiert, scheint es nicht zu sein. Zumindest die eigene Stadt und die eigene Region werden in der Regel sehr positiv und identitätsstiftend dargestellt.

Die Identitäten

Kürzlich war ich wieder in einer solchen Situation. Und der geübte Wiki-Eintrag einer Frau, die mit am Tisch saß, war bemerkenswert. Hier der in Bezug auf die Stadt anonymisierte Beitrag:

Die Stadt, um die es geht, ist für europäische Verhältnisse noch gar nicht so alt. Sie wurde am Reißbrett konzipiert und von Spezialisten aus ganz Europa auf Geheiß eines Auftraggebers erbaut. Sie zeichnete sich immer aus durch die dort gelebte Toleranz. Dort gelang es einem desertierten Militärarzt, der vor seinem Fürsten hatte fliehen müssen, ein revolutionäres Stück auf die Bühne zu bringen, was bis heute als die Geburtsstunde des deutschen Idealismus gefeiert wird. Immer wieder kamen Menschen aus unterschiedlichen Gründen in diese Stadt, mal flohen sie wegen ihres Glaubens, mal wegen ihrer Weltanschauung, mal wollten sie sich verwirklichen und mal suchten sie Arbeit und mal von hier so inspiriert, dass sie ins ferne Amerika zogen, um dort weiter zu wirken. In dieser Stadt kommen zwei Flüsse zusammen und  es wachsen Wein und Tabak. Musik hat immer eine sehr dominante Stellung eingenommen…

Um es kurz zu machen: Wir mussten die Frau irgendwann ausbremsen, sonst wäre es mehr als ein Eintrag geworden. Es sei geraten, sich darüber Gedanken zu machen, um welche Stadt es sich handelt. Oder einfach die Übung für sich selbst mit der eigenen Stadt zu machen und sich zu fragen, wie es denn aussieht mit der Identität. Viel Vergnügen!


Foto: Milada Vigerova (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Auf der Suche nach Identitäten“

Na ja, Das ist einfach. Karlsruhe. Bei meiner Geburtsstadt sähe die Sache etwa so aus: wendisch besiedelt, mal dänisch mal preußisch, Bauern, Fischer und weltweiter Handel, über 1000 Jahre Stadtrechte, alte ev-lutherische Kirche mit Barockorgel. 1938 Kasernenbau, später umfunktioniert zur “Landesirrenanstalt” . Durch Flüchtlinge 1945 von 3 000 auf 15 000 angewachsen und zu einer Angestelltenstadt mit produzierender Restbevölkerung, Kurort und Segelhafen mutiert.

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