Im Oktober 2018 durfte ich als einer von vier Diskutanten an einer Gesprächsrunde mit dem Titel Ab auf die Couch – wie gestört ist unsere Gesellschaft? teilnehmen. Die Positionen des Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz, der Sozialpädagogin Birgit Assel, des Psychologen Franz Ruppert sowie des Gastgebers Ken Jebsen hatte mich beeindruckt und zum weiteren Nachdenken angeregt. So erweiterte ich die Gedanken aus dem 2012 erschienenen Buch „DieKinderwagenRevolution“, welches ich zusammen mit meinem Sohn Benjamin geschrieben hatte, zu einer Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment …
Eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Welt
Rasch, sprunghaft, flüchtig, überstürzt. Eine einzige Beschleunigung, ohne Bremse gegen die Wand. Immer weniger Tiefe und dauerhafte Gefühle sowie berührt, bewegt und betroffen sein von anderen Menschen. Immer seltener Herzenswärme, Rücksicht und Respekt. Dafür Oberflächlichkeit, Egoismus, Sachlichkeit. Langeweile, „bore-out“, Sinnlosigkeit, „burn-out“. Das heutige Leben, eine drohende emotionale Eiszeit, ein drohender gesellschaftlicher Kollaps.
Unbegrenztes Wachstum ist biologisch nicht möglich. Das Leben ist nach Vielfalt, Fülle und miteinander verbunden sein ausgerichtet. Nichts lässt sich nach Belieben ausdehnen und beschleunigen, jeder muss in seinem Rhythmus aus Aktivität und Ruhe schwingen.
Durch das immer größer, weiter, höher und schneller sind wir in den „roten Bereich“ geraten. Der Boden unter unseren Füßen geht verloren. Wir schwirren, flattern und wirbeln rast- und orientierungslos durch die Welt. Wie ein „Hans Guck-in-die-Luft“, „Zappelphilipp“ oder „fliegender Robert“.
Diese Lebensweise bestimmt in noch viel stärkerem Ausmaß den politischen Alltag. Täglich, oft sogar stündlich wechselnde Schlagzeilen – Rücktritt, ja, nein, etappenweise – Dieselverbot ja, nein, vielleicht – Energiewende jetzt, später, schrittweise – Aktienkurse auf und ab – Pressekonferenzen ohne Aussage – Wahlkämpfe oberflächlich, platt, laut, grell – Staatsschulden, begrenzen oder nicht – Talkshow über Talkshow, keiner hört zu, jeder fällt jedem ins Wort – Renten sicher, unsicher, Kürzungen ja, nein – Personaldiskussion über Personaldiskussion – Sozialabgaben steigen, sinken – Konsumklima gut, schlecht, gut, schlecht – Bekämpfung der Armut, ja, nein, vielleicht ein bisschen – soziale Gerechtigkeit, wenigstens etwas – Klimaziele erreichen oder nicht, früher oder später …
Eine einzig große Unaufmerksamkeit. Ständig neue Informationen. Keine klare Linie, kein Abwägen, keine sorgfältig erarbeiteten Konzepte und schon gar keine konsequenten, nachhaltigen Ausführungen. Eine einzig große Hyperaktivität. Unruhe, Lärm, Aktivitäten ohne Inhalt und Ziel. Hektik, Rastlosigkeit und nicht mehr abschalten können. Eine einzig große Impulsivität. Voreilig, vorschnell, unbedacht. Kopflos, sprunghaft, überstürzt. Sofortiges Ergebnis, kein Warten können, kein Nachdenken über langfristige Folgen.
In dieser Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-(ADHS)-Welt sind Politikerinnen und Politiker Teilchen eines unaufmerksam-hyperaktiv-impulsiven Systems geworden. Es bleibt ihnen aber auch gar nichts anderes übrig. Wachstum, Gewinn und Rendite, grenzenlos, um jeden Preis, so schnell wie möglich. Quartalsabschlüsse, Gewinnerwartungen, Aktienkurse „über alles“. Wie sollen in einer solchen Welt Antworten auf die Probleme des Alltags gefunden und die großen gesellschaftlichen Aufgaben gelöst werden? Und vor allem, wie kann so unser Planet Erde gerettet und Frieden geschaffen werden? Sollten Politikerinnen und Politiker nicht zukunftsfähige Konzepte entwerfen sowie langfristig ausgewogene Entscheidungen treffen und umsetzen? Müssten sie nicht achtsam für alle Bürgerinnen und Bürger und ihre Wünsche, Hoffnungen, Sorgen und Ängste sein?
Warum sind sie es aber mehrheitlich nicht? Sie haben doch Amtseid, Gewissen und Verantwortung, die ihr Verhalten bestimmen könnten, ja müssten. Stimmt nicht nur mit ihrer Welt, sondern auch mit ihnen selbst etwas nicht? Gibt es ein zweites großes Problem?
Süchtig nach Macht
Ja, und dieses heißt Sucht. Viele Politikerinnen und Politiker leiden an einer Abhängigkeit. Nicht von einer Substanz, die in Blut, Urin oder Haaren nachweisbar wäre. Sie kann aber wie Kokain, Crystal oder Heroin einen Menschen vollkommen verändern. Diese besondere Droge heißt Macht.
In ihrer Partei drängen sie nach vorne, um immer mehr Ansehen und Geltung zu gewinnen. Haben sie sich empor gearbeitet, Stimmkreis und Mandat, einen wichtigen Parteiposten oder gar ein Regierungsamt erlangt, kann spätestens jetzt der Machtbesitz Wahrnehmung, Gefühlsleben, Denken und Verhalten vollständig verändern. Sie glauben, unverzichtbar zu sein und werden misstrauisch und arrogant.
„Am eigenen Leibe“ erleben sie Unbehagen, Anspannung und Gereiztheit, später Wut, Zorn und Entsetzen, wenn sie übergangen wurden oder ihnen von der Parteiführung der Verlust eines Postens, Wahlkreises oder Mandats angedroht wurde.
Bald benötigen sie immer mehr von ihrem „Stoff“. Sie können mit Alltäglichem nicht mehr zufrieden sein und nicht ertragen, andere besser oder mächtiger als sie selbst zu sehen.
Ihr Machthunger kennt nun keine Grenzen mehr. Sie vergessen alles, um ihre Macht zu erhalten, sich durchzusetzen und noch einflussreicher zu werden. In ihrem Leben schwinden die Bezüge zu anderen Menschen, zu Familie, Freunden, Körper und Natur. Ihre Wahrnehmung engt sich ein, das Gefühlsleben stumpft ab, ihr Denken dreht sich nur noch um ein Thema: Macht. Sie vernachlässigen ihre Gesundheit und vereinzeln immer stärker. Ihre Droge hat sie vollständig in Besitz genommen.
Diese Politikerinnen und Politiker sind aber keine Sucht kranken Junkies. Sie sind nicht von Drogenkonsum gekennzeichnet, tragen keine heruntergekommene Kleidung, haben kein Untergewicht und drohen nicht zu verwahrlosen. Sie müssen nicht ständig auf der Suche nach ihrem Rauschmittel sein, denn sie nehmen sich ihren „Stoff“ in unbegrenzter Menge ganz einfach von uns Bürgerinnen und Bürgern. Ohne Macht können sie nicht mehr leben. Sie bekämpfen sich gegenseitig in Partei und Fraktion mit Hinterlist, Intrigen und Lügen und überbieten sich, Gegnerinnen und Gegner fertig zu machen und kalt zu stellen. Ihre Machtkämpfe sind primitiv, aggressiv und brutal.
Diese Machtsucht ist die Vorderseite einer Medaille. Sie hat auch eine Rückseite.
Voller Angst
Mehr als immer aufs Neue befriedigt, so müssten diese Politikerinnen und Politiker sein. Sie könnten ihre Macht genießen und auskosten. Doch dies ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Sie sind voller Angst. Immer häufiger und stärker spüren sie ihr Herz klopfen und ihren Pulsschlag beschleunigen; sie haben Schwindelzustände und Schweißausbrüche; sie zittern und bekommen Beklemmungsgefühle; sie fühlen eine Kälte und ein grauen-qualvolles Nichts; sie erleben Dinge als unwirklich und sich selbst als „nicht richtig“ anwesend; sie werden „benommen“ und verlieren die Kontrolle über ihre eigenen Gedanken.
Nicht nur die Gier nach Macht hat sie in Besitz genommen, sondern noch viel mehr eine abgrundtiefe Angst, eines Tages keine Macht mehr zu besitzen. Diese beiden Pole beherrschen ihren Alltag und stören ihren Nachtschlaf, die Gier nach Macht und die Angst vor Machtverlust, Bedeutungslosigkeit sowie unendlicher innerer Leere.
Gier und Angst sind eiskalt und unerbittlich. Gier lässt das Blut in den Adern gefrieren, große Gier kann das Herz eines Menschen zerstören. Angst nimmt einem jede Freude, zwischenmenschliches Mitschwingen und Hoffnung. Sie ist Beklemmung und Qual. Starke Angst kann das Innerste eines Menschen vernichten.
ADHS-Welt, süchtig nach Macht und voller Angst. Dies ist noch nicht alles. Erst seit wenigen Jahrzehnten können wir unsere Energie, Freiheit und Menschlichkeit an eine völlig andersartige, künstliche Welt verlieren.
Spielsucht
Computer- und Videospiele können Spaß machen und unterhaltsamer Zeitvertreib, Spannung und „Aktion“ sein. Sie können aber auch Einsamkeit, Enttäuschungen, Ängste, schlechte Erinnerungen oder Schuldgefühle vermindern helfen. Dann wird das Computer- und Videospielen gefährlich. Besonders, wenn es im echten Leben keine Beziehungen, Freundschaften und Liebe gibt und in der virtuellen Welt eine aufregende Geschichte „läuft“, in der man eine große Rolle einnimmt und von den Mitspielerinnen und Mitspielern geschätzt wird.
Das Computer- und Videospielen kann so zum einzigen Lebensinhalt werden und Wahrnehmen, Denken, Gefühle sowie Verhalten völlig bestimmen. Gesundheit, Arbeit und – falls vorhanden – Freundeskreis und Familie werden vernachlässigt. Das Spielen kann das Belohnungssystem des Gehirns betrügen und einem Menschen sämtliche Freiheitsgrade nehmen. Der Spieler wird ein Gefangener seiner virtuellen Welt.
Viele Politikerinnen und Politiker leben nicht nur in einer ADHS-Welt. Sie sind nicht nur süchtig nach Macht und voller Angst, diese wieder zu verlieren. Sie sind darüber hinaus abgehoben von der Wirklichkeit und gefangen in einer boden- und wurzellosen eigenen Welt. In dieser gibt es keine Herzen, keine Seele, keine Kinder und keine armen oder kranken Menschen. Viele Politikerinnen und Politiker leben in einer Welt ohne Gefühle, ohne Betroffenheit und ohne soziale Bezüge. In dieser Welt aus Zahlen, Umfragewerten, Prognosen und Statistiken, Profit, Gewinnen, Rendite- und Wachstumsraten gibt es keine Freiheit und schon gar keine Liebe. Es ist ein Scheinleben, in dem sie sich verirrt und verloren haben.
Wie in einem großen Computerspiel. In einer künstlichen Welt, in der wir Bürgerinnen und Bürger die Spielfiguren sind, die über Tastatur oder Joystick hin und hergeschoben werden und deren Geld und Arbeitskraft den Spieleinsatz darstellen.
Auch dies ist immer noch nicht alles. Es gibt ein letztes großes Problem.
Störung des Sozialverhaltens
Frieden, Würde, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Diese Ideale haben die Vereinten Nationen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft verkündet. In diesem Geiste sollen unsere Kinder aufwachsen, von ihren Eltern vorbildlich erzogen und von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrerinnen und Lehrern umfassend gebildet werden. Dies ist aber bei weitem nicht der Fall. Ganz im Gegenteil: Es steigt die Rate der Kinder und Jugendlichen mit einem stark oppositionellen, aggressiven, dissozialen oder delinquenten Verhalten. Dazu zählen starke Trotz- und Wutanfällen; Streiten, Schlagen, Mobbing und Tyrannisieren von Mitmenschen; Quälen von Tieren; Lügen, Betrügen, Stehlen und Zerstören von Eigentum; schwere Regelverstöße; Schulschwänzen und Weglaufen von Zuhause.
Bis zu zehn Prozent unserer Kinder und Jugendlichen weisen ein solches unsoziales Verhalten in mehr oder weniger ausgeprägter und durchgehender Weise auf. Und das politische Establishment? Was macht dieses fast ausnahmslos mit uns Bürgerinnen und Bürgern, mit unserer Umwelt und Natur? Es setzt seine Macht über seine Abgeordneten – wie beim Fraktionszwang – mit größtem Druck durch; es produziert und verkauft Waffen, mit denen die schrecklichsten Aggressionen angedroht und durchgeführt werden; es belügt seine Wählerinnen und Wähler mit nicht eingehaltenen Versprechungen und verdeckter Parteienfinanzierung; es betrügt uns mit Ressourcenverschwendung, Niedriglohnsektor, Steuerschlupflöchern, Rentensystem und Altersarmut; es stiehlt einem großen Teil von uns Bürgerinnen und Bürgern ihren Anteil am Volksvermögen mit einer Gewinnverschiebung hauptsächlich zu den Reichen; es zerstört mit Schadstoffbelastung, Vermüllung sowie „Flächenfraß“ unsere Nahrung, Gesundheit und Umwelt; es quält Tiere in Massentierhaltung; es missachtet und verletzt unsere „Grundregeln“, das Grundgesetz wie die Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen; es weigert sich – wie bei der „Dieselkrise“ – seine Hausaufgaben zu erledigen und läuft vor Problemlösungen – wie bei der Erderwärmung – davon.
Das politische Establishment ist mehrheitlich kein Vorbild. Es hat eine ausgeprägte Störung des Sozialverhaltens.
Dies ist die Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment. Warum lassen wir uns von diesem unseren Alltag und unser Leben bestimmen? Wir spüren doch deutlich, dass die Ungerechtigkeiten in unserem Land statt kleiner immer größer werden? Wir wissen doch, dass diese Politik unsere Gesundheit und Natur zerstört und nicht zum Frieden führt? Liegt dies etwa daran, dass wir selbst „Schwachstellen“ haben? Diese Frage ist aber einen eigenen Beitrag wert.
Quellen und Anmerkungen
“Positionen – Politik verstehen”: Gesprächsrunde bei KenFM mit Gunther Moll, Birgit Assel (Sozialpädagogin und Trauma-Expertin), Franz Ruppert (Professor für Psychologie) und Hans-Joachim Maaz (Psychiater und Psychoanalytiker).
Bücher zum Thema
Gunther Moll & Benjamin Moll: DieKinderwagenRevolution; Papeto Verlag 2012.
Gunther Moll & Benjamin Moll: HIN UND HER GERÜCKT (Der erste Teil); Papeto Verlag 2017.
Symbolfoto: Peter Lewicki (Unsplash.com)
Professor Dr. Gunther Moll ist Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen. Er setzt sich für die Rechte der Kinder ein. Gemeinsam mit seinem Sohn Benjamin veröffentlichte er 2012 im Papeto Verlag das Buch "DieKinderwagenRevolution" und 2016 "Der Umbruch: Wie Kinder, Eltern und Großeltern unser Land veränderten". 2018 publizierte er zusammen mit Sarah Benecke und Günter Grzega "Die Vorstufe zum Paradies für uns alle". Gunther Moll ist politisch aktiv. Für die Freie Wählergemeinschaft Erlangen ist er im Stadtrat.
2 Antworten auf „Die Sicht eines Kinderpsychiaters auf das politische Establishment“
Politik, Medien, Religionen sind ein Spiegelbild dieser Gesellschaft. Genauso wie unsere Kinder. Es gehört alles zusammen, man kann es nicht trennen und nur mit dem Finger drauf zeigen.
genauso ist es!
nur wo ein ganzheitlicher sichtpunkt – in den viele spezielle einzelaspekte einfließen müssen angestrebt wird – ist es möglich falsche und antagonistische verknüpfungen zu analysieren, um nicht ständig einzelinteressen GEGEN berechtigte interessen anderer “neu” aufzubauen >>> es bleibt ein neurotischer kreislauf der vorhandenen “mächtigen” kräfte, die keine demut kennen – nicht auf spiel, sondern nur auf sieg setzen – der letzendlich die niederlage aller bedeutet.