Menschen sind nicht nur zu Liebe und Zusammenhalt fähig, sondern auch zu Aggression, Rücksichtslosigkeit und Hass. Vorrangig ist aber Kooperation, sonst hätten sie nie überlebt und werden es auch in Zukunft nicht tun.
Streit und Widerstand
Kooperation besteht aber nicht nur im durchgängigen Mitmachen, sondern auch im Ringen um Ziele und Mittel des Kooperierens. Zu diesem Ringen gehört konstruktives Streiten. Ohne dieses läuft der Mensch nur anderen nach oder zieht sich äußerlich oder innerlich zurück. Kooperieren leidet dann oder bricht völlig zusammen. Streiten führt unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Sichtweisen zusammen.

In der Grafik gibt es den Widerstand. Er ergänzt das Mitmachen, indem er andere Ziele oder Methoden vorschlägt, den Ablauf des Zusammenwirkens damit mindestens verzögert oder sogar blockiert, bis eine Einigung gefunden ist oder sich die Kooperierenden trennen.
Der konstruktive Streit
In der zurückliegenden kulturellen Evolution dominierten wohl Drohen, Prügeleien und Verjagen als Mittel des Streitens. Sie sind in den meisten Teilen der Gesellschaft nicht mehr alltäglich. Diese Formen haben sich heutzutage offensichtlich in die höheren, also mächtigeren Kreise verzogen, von denen Kriege geführt, Sanktionen verhängt und ausspioniert wird. Ihre Primitivität ist oft kaum zu überbieten. Und die so Handelnden halten ihre gewählten Mittel für angemessen.
Wenden wir uns wieder dem konstruktiven Streiten zu.
Es gibt verschiedene Intensitäten und Bereichsgrößen des Kooperierens. Entsprechendes gilt für das Streiten. Man kann sich um einen Parkplatz streiten, um Unkraut an der Grenze zwischen Nachbargrundstücken, um das Datum des nächsten Treffens einer Gruppe, über ein flüchtig gesehenes Tier, über die Bedeutung eines Textes oder um Erziehungsmethoden als Eltern. Entscheidend ist in der Regel der kooperative Hintergrund. Er ist mehr oder weniger langfristig, er berührt mehr oder weniger wichtige Werte, ob ausgesprochen oder hintergründig.
Gelernt und geübt werden kann Streiten in all diesen Varianten.
Was ist entscheidend für konstruktives Streiten?
Vor allem die Bedeutung der Sache, um die es geht, nicht die Selbstdarstellung der Beteiligten. Dem entspricht auch, dass „Angreifende“ nicht die Person als ganze angreifen sollten, sondern Verhalten oder geäußerte Absicht des anderen. Diese Regel wird oft verletzt, kann aber (immer wieder) trotzdem beachtet werden: Wenn mich der andere als Person angreift, herabsetzt, kann ich mich weiterhin auf die Sache beschränken, ohne den persönlichen Angriff zu erwidern. Je mehr ich den persönlichen Angriff missachte, desto mehr läuft er ins Leere.
Psychologen betonen oft, wie wichtig die Äußerung von Gefühlen ist. Dem stimme ich nicht zu. Geäußerte Gefühle lenken von der Sache ab, um die es geht, und können nur mit dem Äußern der anderen Gefühle beantwortet werden, die ich habe. Durch ihre unterschiedliche Gefühlswelt sind die Menschen dann vielleicht noch getrennter voneinander als davor.
Wichtiger ist das gemeinsame Reflektieren der Werte, die verfolgt werden: In welche Richtung wollen wir überhaupt zusammenwirken? Ist das vereinbar? Wenigstens zum Teil?
Wenn ich den anderen an einem wichtigen Punkt angreife, riskiere ich, dass es für ihn (seelisch) schmerzlich ist. Nicht immer ahne ich das. Wenn ich dieses Risiko nicht eingehe, schränke ich mein Streiten sehr ein. Wenn ich es an seinen Reaktionen ablese und darauf eingehe, verbindet das schon wieder.
Manchmal muss ich auf eine offene Reaktion warten, muss diese Spannung aushalten. Auch Spannungen von Differenzen, die sich zeigen. Auf das Aufschieben einer Einigung. Das will gelernt sein. Am besten wird es durch Übung, also das Streiten, gelernt.
Chancen durch Streit
Menschen kooperieren heutzutage wenig. Das meiste wird gekauft. Man erfüllt in seinem Job vorgegebene Aufgaben. Nachbarn schotten sich ab, um ja jedem Konflikt aus dem Wege zu gehen. Konflikte werden Gerichten übergeben, wenn sie heftiger werden.
Darunter leidet auch die Offenheit zueinander. Man will möglichst nicht angreifbar sein. Es leidet die Tiefe der Beziehung zueinander. Konflikte würden Unterschiede aufzeigen, aber auch Chancen zum besseren Verstehen und zum Lernen voneinander.
Menschen sind im sprachlichen Ausdruck nicht gleich geschickt. Sie sind nicht gleich schnell im Auffassen. Das können die Beteiligten relativ leicht merken. Der Geschicktere kann Zeit geben, der Ungeschicktere sich Zeit nehmen. Etwa nur sagen: „Darüber muss ich noch mal in Ruhe nachdenken.“
Je durchgängiger die Kooperation gepflegt wird, desto besser spielt sich das ein. Auch hier gilt wieder einmal: Ausdauernde Beziehungen profitieren von der Verfeinerung durch die langen Erfahrungen miteinander.
Heutzutage bleiben oft nur die Familien, in denen – auch da mehr oder weniger – echt kooperiert wird. Und auch sie zerbrechen häufig, sobald das wichtigste Kooperationsanliegen, das Erziehen der Kinder, ausläuft. Auch in Familien wird oft nicht in guter Weise gestritten. Manche stört jedes Streiten. Andere setzen dem Streit rasch durch Lautstärke oder Weglaufen ein Ende. Über die Jahre verbergen viele, was in ihnen vorgeht.
Nicht-Streitende werden im Grunde immer einsamer. Oft merken sie es gar nicht mehr. So stark sind sie davon geprägt. Man kennt nur noch das Streiten zum Beispiel der Politiker in den Medien. Und das ist abstoßend. So will man sich nicht verhalten. Wie schon gesagt: zu Recht.
Streit üben
Was ist zu tun? In erster Linie das ständige Üben von Streiten und Kooperieren, auch das Vorleben von Streiten. Es pflegt die Nähe zu Menschen, es macht berührbar, es verbessert das Gespür für das, was der andere bewältigen kann, es weitet Kooperationsmöglichkeiten aus.
Auch man selbst wird dann durchschaubarer. Man sieht meine (menschlichen) Schwächen. Wer das missbraucht, zeigt im Grunde seine eigene Unfähigkeit. Viele schätzen einen aber dann immer mehr. Man durchbricht an der Basis die Zerstörung, die das System an beziehungsweise in den Menschen angerichtet hat und immer noch anrichtet.
Foto und Grafik: Chang Duong (Unsplash.com) und Gerhard Kugler
Gerhard Kugler (Jahrgang 1946) war Psychologischer Psychotherapeut im Ruhestand. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) und der Gesellschaft für kontextuelle Verhaltenswissenschaften (DGKV), deren Therapieansatz die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist.
7 Antworten auf „Ein Plädoyer für den gepflegten Streit“
Besser kann man es kaum ausdrücken. Herzlichen Dank für diese gefühlvolle Aufarbeitung des menschlichen Etwas. Euch allen da draußen ein friedvolles und fröhliches Osterwochenende.
Bleibt alle recht behütet und streitet – der Sache wegen, was das Zeug hält.
Aber bedenkt auch, daß wir sterben müssen, damit wir klug werden……
LG Uwe
“Psychologen betonen oft, wie wichtig die Äußerung von Gefühlen ist.”
im gegensatz zu ihnen, stimme ich dieser aussage voll zu. denn wird sie in der ich-form als ehrlichster ausdruck der emotionalen befindlichkeit geäußert – gibt es einem gesprächsraum jenseits aller taktisch-rhetorischen argumente, welche unendlich leicht für bewußtseins- und menschenferne diskussionen genutzt/mißbraucht werden können.
ich wehre mich vehement gegen die abwertung von real vorhandenen und formulierten GEFÜHLEN – welche besonders im deutschen raum zu einer überbewertung von bürokratie geführt haben und den existenziellen ausdruck von trauerfähigkeit schon fast vernichtet haben.
ja, wenn des einen trauer, des anderen freude ist, wird es niemals sozialen frieden geben können … nur ständig mißverständnisse, wut und haß …
Vielleicht habe ich meine Abneigung gegen diesen Stil zu sehr zum Ausdruck gebracht. Doch viele Menschen kleiden ihre Vermutungen und Unterstellungen in Gefühls-Ausdrücke: “Ich habe das Gefühl, du hörst mir gar nicht zu!” Und so geht es dann weiter. Gefühle sind erst mal nichts Verbales. Wenn man sie nicht versteckt, können viele von anderen erahnt werden. Man spürt die Rückzugstendenz des anderen. Das kann weiterführen. Aber die Verbalisierung der Gefühle durch den, der sie hat oder vorgibt, erschlägt oft. Sie ist ja schon eine Selbst-Interpretation dieser Person. Wenn sie ihn hindern, weiterhin zu kooperieren, dann ist zielführender, er reflektiert seine Werte und die gemeinsame Werte-Basis.
Oft ist ja Hinderliches fürs Kooperieren gar nicht in der Gefühlswelt, sondern in den gewohnten Präferenzen der Lebensführung. Auch die können reflektiert werden, indem man sich von beiden Seiten auf das Verhalten konzentriert.
Gefühle sind vor allem Hinweise für einen selbst. Und/oder sie begleiten Handlungen und sind gut sichtbar. Begeisterung, Skepsis. Wenn sie verbalisiert werden, verlieren sie manchmal an Echtheit.
G.K.
schön, wer seinen gefühlen trauen kann, selbst wenn er dazu keine stichaltige faktenanalyse für den ursprung in jedem moment der wahrnehmung zur hand hat.
ein gefühl ist KEINE schuldzuweisung “du hörst mir nicht zu” …
die frage “hörst du mir überhaupt zu? verstehst du mich? ich fühle mich bei diesem gespräch gar nicht richtig verstanden” bringt keinen konflikt, sondern eher die lösung – oder aber auch die erkenntnis, der gesrächspartner hat gar kein interesse und ERKLÄRT dann das ungute gefühl ausreichend.
wer unwohlsein mit opfer-täter-konstellationen zu seinem eigenen gunsten projezieren will, versteht nichts von “gepflegtem streit” und bricht alle regeln einer gespächskultur >>> wie dies leider mehrheitlich praktiziert wird, das psychologie fast nur als herrschaftsinstrument zur manipulation eingesetzt wird, ist es DRINGEND notwendig, es für alle menschen als bildungsgut zugänglich zu machen!
So, jetzt wieder mit meinem normalen “Nickname”. GEWEKU war ohne Absicht reingerutscht. Ich bin Gerhard Kugler’
MARIE schreibt: “schön, wer seinen gefühlen trauen kann”
Daraus spricht für mich, dass man sie mit einem verschiedenen Wahrheitsgehalt ausstattet. Doch Gefühle sind Gefühle. Sie tragen keine “Wahrheit” in sich. Sie entstehen einfach und vergehen wieder. Sie sind Reaktionen, bilden aber nichts ab. Es sind vielleicht von anderen nicht nachvollziehbare Reaktionen. Weil Menschen heutzutage mehr innen als im Austausch und der Auseinandersetzung leben, bläht sich ihr Gefühlsleben auf und setzt sich an die Stelle der wahrgenommenen Realität. Und dann kämpfen sie im Streit um die “Wahrheit” dieser “Realität”. Gefühle sind Vorgänge und keine Form von Realität außerhalb von mir. Deshalb ist es sinnlos, ihretwegen zu streiten. In den Streit einbeziehen kann man sie, aber bitte nur “primäre” Gefühle: Freude, Erleichterung, Verunsicherung, Ärger usw. Ich verbalisiere Gefühle selten nach außen. Ich verstecke meinen Ausdruck nicht. Da merken die Menschen meist rasch, was ich für Gefühle habe. Die Art meines Redens zeigt sie der Umwelt.
G.K.
Hallo Marie,
Da haben Sie aber meine Zustimmung total mißverstanden, denn es ging und geht doch bei G.K. um ehrliche Gefühle. Und nur für diese Aufrichtigkeit habe ich ihm gedankt.
hmm … ehrliche gefühle brauchen dringend vertrauen als voraussetzung ihrer offenbarung
solche situationen sind natürlich nicht selbstverständlich an jedem ort gegeben – dieses wissen um die unterscheidung hatte ich mal vorausgesetzt …
andererseits ist ehrlichkeit immer eine handreichung zur vertrauensbildung, über dieses mögliche ziel muß man klarheit haben … und nicht zuletzt gibt es auch “wunderbare” schauspieler …
ich bin auf keinen fall dafür, “perlen vor die säue zu werfen” … andererseits gibt es keinen grund, aufrechte gefühle einfach abzulehnen oder zu zensieren >>> letztendlich sollen gefühl UND verstand in einem gelingenden austausch verbunden sein … gefühle sind jedoch klarer als der verstand es jemals vermag … der eigene verstand sollte sie jedoch auch RICHTIG! deuten … doch nicht einmal DAZU ist er ja jederzeit in der lage … und DAS ist das dilemma