Als das Rauchverbot in Gaststätten in Europa eingeführt und in Deutschland das entsprechende Gesetz konsequent umgesetzt wurde, besuchte ich einen Freund im französischen Lyon. Als wir abends in ein Restaurant gingen, war ich verblüfft, weil in dem Lokal geraucht wurde.
Bürokratie trifft das echte Leben
Als ich meinen Freund darauf hinwies, dass das doch eigentlich gar nicht mehr sein dürfe, wies er mich darauf hin, dass mitten im Raum zwei Tische ausgewiesen waren, auf denen keine Aschenbecher zu sehen waren und sogar Schilder mit dem Rauchverbotszeichen standen. Für ihn, den Franzosen, war das völlig okay und dem Gesetz Genüge getan. Für mich, den Deutschen, wirkte das eher wie eine Persiflage.
Die Episode sagt sehr viel aus über die unterschiedlichen Sichtweisen und Befindlichkeiten in Europa. Jetzt, so kurz vor den neuerlichen Europawahlen, wird heftig darüber gestritten, ob die EU notwendig ist oder nicht. Oder in welcher Form sie notwendig ist und was an ihr auf keinen Fall Bestand haben sollte. Das sind gute und wichtige Fragen und wer nur mit dem Slogan durch die Lande läuft, wir bräuchten „mehr davon“, hat schon lange nichts mehr verstanden.
Bürokratie der EU
Es gibt viele Aspekte, die da zu beleuchten sind. Zum Beispiel das immer wieder auftretende und alles andere als Frieden stiftende Junktim [1] von EU und NATO, aber darum soll es hier nicht gehen. Was nahezu alle mit denen ich ins Gespräch komme monieren, ist der von der EU ausgehende Bürokratismus.
Betrachtet man sich die Richtlinien und Verordnungen, die in Brüssel entstehen, so stellt sich tatsächlich die Frage, ob in Europa keine anderen Sorgen bestünden als Gurken oder Glühbirnen. Manche Dinge, wie die Vergabeordnung, sind, das muss zugestanden werden, aus dem Wunsch entstanden, die Korruption zu bekämpfen. Designed wird das alles übrigens immer von einer relativ kleinen Bürokratie, die da in Brüssel sitzt – die Stadt Berlin hat mehr Beschäftigte als die gesamte EU.
Deutschlands Bürokratie
Doch neben den viel zitierten Gesetzen und Verordnungen existiert ein Faktor, der den meisten Kritikern entgeht und der dazu beigetragen hat, alles, was aus Brüssel kommt, gründlich zu diskreditieren. Und das ist die deutsche Art und Weise der Umsetzung. Genau betrachtet ist die bürokratische Exzessivität [2] der deutschen Interpretation mit dafür verantwortlich, wie sehr die Idee einer wie auch immer gearteten europäischen Organisation diskreditiert ist.
Wer daran zweifelt, dem seien die innerhalb deutscher Verwaltungen entstandenen Einheiten zur Umsetzung der Vergabeordnung zur näheren Betrachtung empfohlen. Dort sitzen vom bürokratischen Wahn heimgesuchte Sensenmänner, die jede noch so gute Idee an der Umsetzung verhindern. Denn bevor irgendetwas losgehen kann, haben sie das Gift der Paralyse verspritzt und alle Beteiligten in den Zustand verlorener Zuversicht und gebrochener Motivation versetzt.
Überregulierung und Risikoarmut
Und damit kommt eine Schlussfolgerung zur Geltung, die bei einer oberflächlichen Europakritik zunächst niemand im Sinn hat: Ein wie immer geartetes Europa kann nur dann funktionieren, wenn in Deutschland ein radikaler Bruch mit dem bürokratischen Sicherheitsdenken stattgefunden hat.
Wie viele Scherze existieren darüber, dass in Deutschland keine Großprojekte mehr innerhalb eines definierten Zeit- und Geldrahmens gelingen? Es sind unzählige, und sie sind berechtigt. Dies hat aber mit der desolaten Befindlichkeit des eigenen Landes und seiner verkommenden Mentalität der Überregulierung und Risikoarmut zu tun – Gerechtigkeit muss sein. Der schwerfällige eigene Bürokratismus lähmt mehr als vieles, das in Brüssel entsteht.
Quellen und Anmerkungen
[1] Ein Junktim (auch bekannt als Junktimklausel) wird in der Rechtswissenschaft die Bestimmung einer Rechtsnorm genannt, dass eine im Rang unter ihr stehende Rechtsvorschrift eine bestimmte Regelung nur in Verbindung mit einer anderen Regelung treffen dürfe. ↩
[2] Exzessiv bedeutet maßlos, ausschweifend oder auch das Maß sehr stark überschreitend bezogen auf eine bezeichnete Eigenschaft. ↩
Foto: Philipp Berndt (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Vom Wahn der Bürokratie heimgesucht“
Von dem Hong Konger Polizeipraesident (pre-1997) lernte ich: erlasse kein Gesetz, dessen Befolgung sich nicht ueberwachen oder durchsetzen laesst. Ziemlich logisch. Viele der zahllosen ‘Preaventiv-verordnungen’ fallen darunter.
Richtig. Ein Beispiel aus dem Strassenverkehr: Ich weiss zuvderlässig, dass LKW-Fahrer sich monatlich bis zu 33 € Bussgelder für geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen und ähnliches leisten dürfen. Die Gehaltsersparnis ist für den Unternehmer wegen der geringen Überwachung höher.
Leider ein Tippfehler. Es sind nicht 33 €, sondern 300,- € monatlich.