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Das Entmündigungsprogramm – Opfer, Täter und der Teufel

Der ausdifferenzierte Opferkult ist ein Programm zur Entmündigung und ein Instrument der Spaltung.

Wenn das Leben nicht mit dem Label korrespondiert, das ihm zur Charakterisierung gegeben wird, dann läuft etwas gehörig schief. Und momentan wird heftig gelabelt. Es geht für viele um sehr viel, nämlich um Macht und Einfluss, für manche sogar um die nackte Existenz. Doch davon vielleicht ein anderes Mal.

Die Irritation

Was in starkem Maße auf allen Kanälen gesendet wird, ist das Bild einer Gesellschaft, die frei und gerecht ist und für die es sich zu kämpfen lohnt. Ausgerechnet diese Aussage in den Kontext der EU zu stellen, muss Menschen aus anderen Staaten zwar wie der blanke Hohn vorkommen, aber auch das ist nicht das Thema.

Was irritiert, ist die Reklamierung des gegenwärtigen bestehenden politischen Systems als das freieste, sozialste und gerechteste überhaupt, und gleichzeitig sind in dieser Gesellschaft mehr Opfer und Opfergruppen gelistet als historisch jemals zuvor.

Der gesamte politische Diskurs dreht sich um das Schisma der Diskriminierung. Es existieren starke, durch Lobbys vertretende Opfergruppen, ganze Opferhierarchien und Diskriminierungskataloge. Analog dazu sind Tätergruppen identifiziert, die längst nicht so zahlreich sind, aber die es in sich haben. In der finalen Logik ist es die Gesellschaft an sich oder der alte weiße Mann, der die Gesellschaft durchtränkt hat mit seiner Dominanz und der daraus resultierenden Ungerechtigkeit des gesamten sozialen Systems.

Die Opfer und die freie Gesellschaft

Wenn sich allerdings der politische Diskurs vornehmlich um Opfer und Diskriminierte dreht, wie kann es dann sein, dass die gegenwärtige Gesellschaft als die freieste aller Zeiten gefeiert wird? Das ist nicht schlüssig und entpuppt sich als Ideologie. Unter dem Strich ist diese Gesellschaft freier, als sie erscheint.

Das scheint gewagt formuliert zu sein, erhält jedoch eine andere Perspektive, wenn die Wirkung der ganzen Opferideologie auf ihren tatsächlichen Gehalt überprüft wird.

Wer sich zu den Opfern zählen darf, genießt einen schätzenswerten Status, zumindest formal und verbal, und muss im Grunde genommen nichts mehr tun. Es reicht, sich der Terminologie zu bedienen und sich den Ritualen der Emotionsbekundung anzuschließen. Resultat dieses Prozederes ist jedoch die tatsächliche soziale und politische Passivität.

Was interessiert es die Macht, wenn irgendwo im Saal oder im Netz irgendwelche ausdifferenzierten Spezialgruppen gemeinsam den Gefangenenchor [1] singen? Bequemer kann die Welt nicht sein, sagt die Macht, denn wer kollektiv jammert, der kämpft nicht, und wer nicht kämpft, der tut keinem weh.

Das Entmündigungsprogramm

Unter dem Aspekt der sozialen und politischen Gestaltung handelt es sich bei dem ausdifferenzierten Opferkult zum einen um ein sehr wirkungsvolles Instrument der Aufspaltung der Gesellschaft in ganz besondere, vermeintlich nicht miteinander korrespondierende Gruppen, und zum anderen handelt es sich um das wohl mächtigste Entmündigungsprogramm der Neuzeit.

Nie zuvor konnte der Gesellschaft nahezu kollektiv suggeriert werden, dass jede und jeder in irgendeiner Form zu einer stark diskriminierten Gruppe gehört, die es zu schützen gilt.

Seltsamerweise scheint nie in diesem Zusammenhang der Rat auf, dagegen aktiv etwas zu tun. Man könnte ja den Frauen raten, bei ungleichem Lohn Streiks zu organisieren, den Immigranten raten, auf das Kanzleramt zu marschieren und den Pakteboten, an jedem Montag der Woche kollektiv ihre Fracht zu verbrennen, bis die Bezahlung stimmt.

Was wäre das für ein Feuerwerk an sozialer und politischer Revolte – und was hieße das für die Stimmung im Land!

Aber nein. Bei der Opferideologie führt der Teufel Regie. Sein Wunsch ist Entmündigung und Passivität. Vor richtigen Tätern, da hätte der Teufel Angst.


Quellen und Anmerkungen

[1] Das Lied Va, pensiero, sull’ali dorate(„Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“), auch bekannt als Gefangenenchor, ist ein Chorwerk aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi. Der Chor der Hebräer, in Babylonien gefangen, ruft Gott um Hilfe an.


Foto: Mathew Schwartz (Unsplash.com

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Das Entmündigungsprogramm – Opfer, Täter und der Teufel“

Es wäre an der Zeit, schon wegen der bevorstehenden Klimaprobleme endlich für eine direkte Demokratie einzutreten. Die heute agierenden Vertreter der Parteien sind so weit entfernt von echten Lösungen, dass diese Form des Regierens schnellstens ein Ende finden muss. Der normale Menschenverstand hätte sicher bessere Lösungen parat. Allein das heutige Geldsystem bremst solche Änderungen aus. Wann finden sich genügend Rufer, die zusammen unter Umgehung der heutigen Presse, die eben ein Kind des Geldsystems ist, eine neue Art des Miteinander predigen werden. Ist es nicht ein Trauerspiel, dass man wegen Geld, das im Grunde doch keinen Wert darstellt, sich das Leben so erschwert. Schon das zeugt von zu geringer Intelligenz. Wir wollen doch nicht hoffen, dass die Bildung so weit eingeengt ist, dass nicht wieder ein “homo sapiens” erkennbar wird, sonst müssen wir eben mit dem Untergang der menschlichen Rasse rechnen.

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