Die Rekonstruktion der europäischen Aufklärung vermittelt ein sehr deutliches Bild. Die Erklärungsmuster, die sich an der Welt, so wie sie erschien, abarbeiteten, begannen mit dem Animismus [1], setzten sich fort über die Religion und endeten in der Philosophie.
Der Rationalismus
Deutschland, das in Zentraleuropa rückständigste Land bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, ist im Gegensatz zur Gesellschaftsformation hinsichtlich des beschriebenen Denkprozesses ein hervorragendes Beispiel.
In keiner anderen Ideengeschichte kann das stetige Anwachsen des Rationalismus in der Welterklärung besser illustriert werden als in der Verlaufskurve vom deutschen Sagenwesen bis hin zur klassischen deutschen Philosophie.
Deren Endpunkt, als der Hegel [2] bezeichnet werden kann, bereitete mit der Dialektik den Weg für Marx, der seinerseits aus der nachvollzogenen Entwicklung des wachsenden Rationalismus einen Fortschrittsbegriff ableitete, der lange Zeit ungebrochen geteilt wurde.
Bis die Zeit anbrach, in der Schamanismus, Mystizismus [2] und Sektenwesen eine Renaissance erlebten. Das Industriezeitalter, die ersten imperialistischen Kriege, der Kolonialismus und die beschleunigte Entfremdung in der industriellen Produktion begünstigten eine Renaissance des Irrationalismus und der politischen Reaktion.
Der Rückfall
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts griffen die absurdesten Theorien um sich und zogen Bewegungen nach sich, die nicht in die Zeit passten, die allerdings aus der Zeit resultierten.
Beim Studium dieser Bewegungen fällt seit Langem auf, dass eine beängstigende Parallele zu den Verhältnissen besteht, unter der die gesellschaftliche Kohäsion in diesen Tagen leidet. Vom Kultischen bis zum Veganismus wurde im Vorraum des deutschen Faschismus alles vorgelebt, was sich heute wieder dechiffrieren lässt.
Die Versuche, das, was bereits einmal gesellschaftliches Unheil versprach, zu erklären, waren nach Ende des Krieges und beim Aufbau neuer Gesellschaften zunächst gelungen, ihr Erkenntniswert jedoch verblasste mit der Zeit.
Quasi als Epitaph [4] auf den alten Rationalismus kann bis heute Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung” gelesen werden, in der der Doppelcharakter des Rationalismus bei seiner Instrumentalisierung durch den Irrationalismus entkleidet wird.
Das ist bis heute starker Tobak, und, bei der Lektüre stellt sich die beklemmende Frage ein, wie es sein kann, dass eine Gesellschaft in ihrer intellektuellen Befindlichkeit derartig zurückfällt.
Die Aufgabe für uns alle
Belege für die These, dass der Rationalismus momentan keine Chance hat, liegen auf der Straße. Geschichtsbücher werden gefälscht, Fragen an den Hochschulen unterbunden, neue heilige Kühe auf die Flure geführt und eine inquisitorische Logik feiert fröhliche Urstände.
Alles, worauf sich die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft von einst hatte verständigen können, wurde in den Gully der archaischen Befindlichkeit gespült.
Die Klage darüber hätte den gleichen Charakter, wenn daraus nicht die Aufforderung an uns alle resultierte, sich an zwei Aufgaben zu machen, die als essenziell anzusehen sind.
Was zu tun ist
Dabei handelt es sich um die Aufgabe, den Rationalismus in die Welterklärung zurückzuholen. Die Erklärung der Welt muss über die Enthüllung der irrationalen, manipulativen und ja, propagandistischen Binsenweisheiten der herrschenden Meinungsbildung geschehen.
Wer sich der inquisitorischen Logik des medialen Mainstreams ergibt, hat seine Chance auf Gehör verspielt.
Und es muss darum gehen, die Methoden der kontinuierlichen Entmündigung ihrer Wirkung zu berauben. Wie das geht? Die Antwort ist so einfach wie wirksam: in dem wir alle beginnen, aktiv einzugreifen in das Geschehen. Und wo? Überall da, wo wir sind.
Die Form der Verwaltung einer kompletten Population durch Mandatsträger und Propagandisten, denen die gesellschaftliche Zukunft nichts wert ist, muss ein schnelles Ende haben.
Quellen und Anmerkungen
[1] Animismus (im Griechischen Wind oder Hauch, im Lateinischen Seele oder Geist) hat in den Religionswissenschaften und der Ethnologie unterschiedliche Bedeutungen. Der Begriff steht zum Beispiel für die spirituell-religiösen Vorstellungen einer Allbeseeltheit. Das bedeutet, dass jeglichen oder nur bestimmten Objekten der Natur eine “persönliche” Seele oder ein innewohnender Geist zugesprochen wird. Mehr Informationen auf https://de.wikipedia.org/wiki/Animismus_(Religion) (abgerufen am 06.06.2019). ↩
[2] Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) war ein deutscher Philosoph. Er gilt als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus. ↩
[3] Mystizismus ist eine abwertende Bezeichnung für unkritisches, schwärmerisches und religiös überhöhtes Verhalten. ↩
[4] Als Epitaph wird eine Grabinschrift oder ein Grabdenkmal für einen Verstorbenen bezeichnet. ↩
Foto: Oscar Keys (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.