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Gesellschaft

Heinrich Heine – Ein Europa der Klassen und nicht der Nationen?

Heinrich Heine sprach schon davon, dass das Europa der Nationen Geschichte sei und an dessen Stelle nur noch die Wahl zwischen zwei Parteien bestehe: Reiche und Arbeiter.

Heinrich Heine, einer der europäischen Vordenker, hat bei dem ganzen Tamtam vor den Wahlen zum Europäischen Parlament bei keiner Partei eine Rolle gespielt. Alle, die für den Status quo oder den Ausbau des Status quo warben, haben sich auf alle möglichen historischen Figuren berufen – der Bundespräsident in Verkennung des historischen Kontextes schon vor Jahren sogar auf den Briten Winston Churchill [1]. Aber bei niemandem kam der Name Heinrich Heine [2] über die Lippen.

Heinrich Heine und die Klassenfrage

Das wäre rätselhaft, wenn da nicht das revolutionäre Denken des im Pariser Exil Verstorbenen wäre. Niemand im 19. Jahrhundert hat sich so zu dem europäischen Gedanken bekannt wie er, aber niemand hat auch den Gedanken so zugespitzt wie er.

Um es deutlich zu sagen: Heine sprach davon, dass das Europa der Nationen Geschichte sei und an dessen Stelle nun – wir sprechen von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts! – nur noch die Wahl zwischen zwei Parteien bestehe. Die der Nationalisten, Monarchisten und Reichen und die der Arbeitenden.

Das ist ein Vermächtnis, das erst einmal verkraftet werden muss. Europa war für Heine eine Klassenfrage.

Und nun, stellen wir uns einmal vor, genau diejenigen, die von einem “Mehr” von Europa sprachen, würden mit dieser These konfrontiert. Dann müssten sie offenlegen, für welche Partei sie denn mehr wollen. Für die Reichen, die Großkonzerne und Monopole, oder für die abhängig Beschäftigten. Eine Reise durch den von der EU beherrschten Kontinent genügt, um festzustellen, die Politik welcher Partei – die Regie derer, die die EU-Mandate wahrnehmen –, für die Version Europas gestanden hat, für die geworben wurde.

Der Neoliberalismus, die Expansionspolitik Richtung Osten, die Bereitung neuer Märkte durch Subvention potenzieller Käufer mit Steuermitteln, die Wegsanierung funktionierender Gemeinwesen und die Planung kollektiver Rüstungsprojekte sind nicht unbedingt das, was die Arbeitenden auf dem EU-dominierten Kontinent als ihre Interessen beschreiben würden.

Ein radikaler Ansatz

Das Gegenteil wäre der Fall! Es ginge darum, gemeinsam zu definieren, in was für einer Gesellschaft die Völker leben wollen. Sich zu fragen, was dazu gehört, um ein auskömmliches und vernünftiges Leben zu führen. Wichtig sind die Existenz der Arbeitskraft betreffende Fragen wie Lohn und Zeit, genauso entscheidend und revolutionär die Angelegenheiten um die Besteuerung von Wertschöpfung.

Wer nachhaltig wirtschaftet, dem Gemeinwohl dient und die kollektive Infrastruktur stärkt, sollte anders besteuert werden wie Gewinn- und Profitnomaden ohne ein soziales Heimatland. Es ginge darum, an welchem Bildungshorizont gearbeitet werden müsste und zuletzt um die Frage, welche Maßnehmen im Interesse einer tatsächlichen Friedenssicherung geeignet wären.

Heines Ansatz ist radikal, von der Wurzel her, und es verwundert nicht, dass er mit seinen Überlegungen und Vorschlägen in dem gesamten Kontext der momentanen Reflexion über die Befindlichkeit der gegenwärtigen EU bei denen keine Rolle spielt, die die Geschäfte führen. Auch das ist entlarvend.

Und weil das so ist, sei die Idee Heines zumindest mit einer Quelle belegt. Sie sagt mehr als jede Kolportage:

(…) denn ihr spekuliert immer auf alles, was schlecht im deutschen Volke ist, auf Nationalhass, religiösen und politischen Aberglauben, und Dummheit überhaupt. Aber ihr wisst nicht, dass auch Deutschland nicht mehr durch die alten Kniffe getäuscht werden kann, dass sogar die Deutschen gemerkt, wie der Nationalhass nur ein Mittel ist, eine Nation durch die andere zu knechten, und wie es in Europa überhaupt keine Nationen mehr gibt, sondern nur zwei Parteien, wovon die eine, Aristokratie genannt, sich durch Geburt bevorrechtet dünkt und alle Herrlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft usurpiert, während die andere, Demokratie genannt, ihre unveräußerlichen Menschenrechte vindiziert und jedes Geburtsprivilegium abgeschafft haben will, im Namen der Vernunft.

Quelle: Heinrich Heine; Vorrede zur Vorrede zu Französische Zustände

Quellen und Anmerkungen

[1] In einem Essay mit dem Titel “Europa ist die Lösung. Churchills Vermächtnis” bezog sich Frank Walter Steinmeier unter anderen auf eine Rede von Winston Churchill (Premierminister von Großbritannien von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955) aus dem September 1946 und auf die Idee der Vereinigten Staaten von Europa.

[2] Christian Johann Heinrich Heine (1797-1856) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Dichter. Er wurde wegen seiner jüdischen Herkunft, aber auch wegen seiner politischen Ansichten von Antisemiten und Nationalisten angefeindet. Im Deutschen Bund wurde er mit Publikationsverboten belegt. Heine ging 1831 ins Exil nach Paris und verbrachte dort seine zweite Lebenshälfte. Die politischen Berichte über Frankreich entstanden zwischen Dezember 1831 bis September 1832. Die “Vorrede zur Vorrede” wurde erst nach dem Tod Heinrich Heines veröffentlicht.


Foto: Heinrich Heine, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1831 (gemeinfrei; cropped). Quelle: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_image.cfm?image_id=272

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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