Kategorien
Philosophie

Betroffenheitslehre und das Sein und das Nichts

Es wurde durch eine Art Betroffenheitslehre das Gefühl vermittelt, politisch relevant zu sein. Aber nur zu sein ist kein Verdienst.

Audio

Es wurde durch eine Art Betroffenheitslehre das Gefühl vermittelt, politisch relevant zu sein. Aber nur zu sein ist kein Verdienst.

Christopher Hitchens, der in London aufgewachsene Querkopf aus dem journalistischen Milieu, den es irgendwann nach Washington zog, um den dort Mächtigen zu zeigen, dass auch sie nur mit Wasser kochten, dieser mutige und scharfsinnige Mann, den keine Macht auf dieser Welt, sondern nur der viel zu frühe Tod bezwingen konnte, dieser Hitchens [1] beschrieb in seiner Autobiografie eine Szene im London der späten Siebzigerjahre des letzten Jahrtausends.

Die Ideologie der Benachteiligung

Auf einer Protestveranstaltung stand ein Mann auf, der auf seine Herkunft, seine Ethnie und seine Religion verwies. Das brachte ihm großen Beifall ein, noch bevor er einen Beitrag zu der laufenden Diskussion geleistet hatte. Hitchens, genannt The Hitch, erinnerte sich, weil er da das Gefühl gehabt hatte, dass sich etwas in eine dramatisch falsche Richtung entwickelte.

Angesichts der Episode, die Hitchens erschütterte, können wir heute nur müde lachen, denn wir sind bereits in einem Raum beheimatet, in dem die Herkunft mehr bedeutet als die Leistung. Scharf transponiert heißt das, wir sind zu einer aristokratischen Haltung zurückgekehrt, in der die Herkunft alles bedeutet, nur keine Verpflichtung, auch etwas zu tun. Es ist eine Ideologie des Müßiggangs, die zudem noch ein gutes Gefühl beschert.

Es ist den Designern der schicken und modernen Ontologie [2] gelungen, dem Gros einer zunehmend entmündigten Bevölkerung zu suggerieren, dass eine wie immer definierte Benachteiligung sie in der gesellschaftlichen Reputation privilegiere und dazu führe, nichts tun zu müssen als auf die vermeintlichen Narben zu verweisen, um zu den Guten zu gehören.

Entmündigungsprozess und Betroffenheitslehre

Ja, Hitchens hatte recht: Mit dem Verweis auf die Herkunft und dem Ausblenden von tatsächlicher Leistung wurde die Welt derer auf den Kopf gestellt, die sich bewusst waren, dass gesellschaftliche Veränderungen nur dann zustande kommen können, wenn sich eine Vorstellung davon, wie es zukünftig sein sollte mit der Energie und Courage verband, dieses auch bewerkstelligen zu wollen. Das sind die Macher der Veränderung und nicht die feuilletonistischen Schöngeister einer abgeschmackten Betroffenheitslehre.

Doch woher kam diese Tendenz? Sie resultierte aus einem vielleicht nicht abgestimmten, aber allgemein praktizierten Ansinnen, diejenigen, um die es jeweils gesellschaftlich ging, von der eigenen Aktivität abzuhalten und ihnen zu versichern, dass ihre Mandatsträger es wohl richten würden.

Ein Blick auf die politischen Plakate jener Zeit, in der das noch anders war, macht den Wandel deutlich: Da steht es immer wieder geschrieben: Auf Dich kommt es an! Das ist vorbei, denn wer würde sich heute, am Ende eines lang andauernden Entmündigungsprozesses noch angesprochen fühlen?

Das Sein und das Nichts

Als Surrogat [3] für die frühere Aktivität und Verantwortung stand die Betroffenheitslehre, die zumindest das Gefühl vermittelte, noch irgendwie politisch relevant zu sein. Die schlechte Nachricht: Nur zu sein ist kein Verdienst, das sich von dem der Amöbe unterscheidet.

So trifft es sich, dass da manche theoretischen Überlegungen wieder zutage treten, die dazu geeignet sein könnten, aus den dumpfen Gefühlsfiguren zum Teil wieder Existenzen werden zu lassen, die allmählich begreifen, dass sie zurückmüssen vom verwalteten Objekt und hin zum handelnden Subjekt.

Und so kommt es, dass das nie unterschätzte, aber leider auch oft ignorierte Werk Jean Paul Sartres , “Das Sein und das Nichts” [4], wieder gründlich gelesen werden muss, um der Misere des Müßiggangs, der aus der Betroffenheitsideologie resultiert, ein Ende zu bereiten.

Die Quintessenz des französischen Existenzialisten [5] wirkt in unserer schlafwandelnden Welt wie loderndes Feuer: Unser Sein ist etwas zu Leistendes!


Quellen und Anmerkungen

[1] Christopher Eric Hitchens (1949-2011) war ein britisch-US-amerikanischer Autor, Journalist und Literaturkritiker. Er erregte Aufsehen mit Veröffentlichungen über den ehemaligen US-Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger. Hitchens prangerte die interventionistische und aggressive US-Außenpolitik der 1970er Jahre an und forderte eine Strafverfolgung Kissingers als Kriegsverbrecher. Nach den sogenannten Terroranschlägen vom 11. September 2001 (auch 9/11 genannt) befürwortete Hitchens den “Krieg gegen den Terror” sowie den Irakkrieg ab 2003. Den islamistischen Terrorismus bezeichnete er als “Islamfaschismus”. Hitchens machte für zahlreiche Missstände und Fehlentwicklungen in der Gegenwart Religion verantwortlich.

[2] Ontologie ist die Lehre vom Seienden und eine Disziplin der (theoretischen) Philosophie. Sie beschäftigt sich mit der Einteilung des Seienden und den Grundstrukturen der Wirklichkeit.

[3] Der Begriff Surrogat bezeichnet den Ersatz für einen Gegenstand oder für einen Wert.

[4] Jean-Paul Charles Aymard Sartre (1905-1980) war ein französischer Publizist, Dramatiker und Philosoph. Er gilt als Vordenker und Hauptvertreter des Existentialismus. Das Werk “Das Sein und das Nichts” verfasste Sartre in den 1940er Jahren. Im Zentrum steht die Frage nach der ontologischen Begründung der Freiheit.

[5] Existentialismus ist eine philosophische Strömung der Existenzphilosophie. Durch die Essenz (Wesens­bestimmung), seine Bestimmung als biologisches Wesen (auch Vernunft­wesen oder göttliches Wesen), erhält der Mensch vor seiner Existenz schon eine Bedeutung, eben biologisch, vernünftig, gottähnlich.


Symbolfoto: Jessica F (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Wie ist Deine Meinung zum Thema?

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.