Heinrich Heine ist brandaktuell. Er war nie aktueller als heute. Warum? Weil er an der Schwelle zur Moderne vieles von dem aufbrach, was gesetzt zu sein schien und weil er politische Tendenzen witterte, die weit über sein Leben, nämlich bis heute, wirken sollten.
Politischer Journalismus
Dem Phänomen Heine, das vielleicht am besten mit den Überschriften des politischen Journalismus, des Exils und der Mythendeutung überschrieben werden kann, geht der Journalist und Verleger Rolf Hosfeld in einer Biografie in sehr pointierter Weise nach.
Die Komplexität der Person, die voller Widersprüche steckte, und gerade daraus das Modell einer Lesart der sich zu seinen Lebzeiten bahnbrechenden Moderne ermöglichte, wird in dieser Biografie sehr gekonnt nachgezeichnet.
Der Titel “Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen” verrät den Akzent, der auf dem Ganzen liegt. Es geht nicht um eine zumeist praktizierte Nachzeichnung von Biografie und Werk, was auch geschieht, sondern um die neue existenzielle Formgebung für die Heine steht.
Der europäische Riese
Drei wesentliche Akzente seien aus dem gut lesbaren Werk Hosfelds herausgegriffen. Wichtig und bis heute zumindest in der zeitgenössischen Rezeption unterschätzt ist die Entschlüsselung der gedanklichen Identität der Deutschen, die zu seiner Zeit noch um eine nationale Identität kämpften.
In seinen Schriften unter dem Titel “Elementargeister” dechiffrierte Heine den geistigen und mythologischen Horizont, in dem sich der werdende europäische Riese bewegte.
In der für ein französisches Publikum verfassten “Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland” griff Heine auf diese frühen Arbeiten zurück und erklärte den langen Weg vom blutrünstigen Mythos zur Aufklärung.
Und in der dem Nationalrevolutionär Ludwig Börne1Carl Ludwig Börne (1786-1837) war Journalist, Literatur- und Theaterkritiker. Er gehört zu den Wegbereitern der literarischen Kritik und des Feuilletons in Deutschland. gewidmeten Schrift polemisiert Heine gegen den aus den „Elementargeistern“ in die Moderne hinübergeretteten Puritanismus und Dogmatismus der Befreiung, der bis in unsere Tage reicht und ein deutsches Spezifikum darstellt.
Journalismus als Beruf
Einen zweiten Schwerpunkt stellt die eigene Existenz als Schriftsteller dar. Dabei ist die Namensgebung Schriftsteller im klassischen Sinne bereits eine Verfälschung der realen Existenz. Denn Heine hat mit der Art und Weise, wie er sein Geld mit dem geschriebenen Wort verdiente, den Beruf des Journalisten vorgezeichnet.
Dass er seit den ersten Tagen seines Pariser Exils mit einem Honoré de Balzac2Honoré de Balzac (1799-1850) war ein französischer Schriftsteller. Gemeinsam mit Victor Hugo, Alexandre Dumas und George Sand gründete er 1838 die Société de Gens de Lettres, der erste französische Schriftstellerverband. befreundet war, zeigt die räumliche wie spirituelle Nähe dieser neuen Form des Berufs.
Mit den vor allem in der Augsburger Allgemeine Zeitung veröffentlichten Berichten über Frankreich (Französische Zustände, Lutetia3Heinrich Heine – Lutetia: Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Berichte für die Augsburger “Allgemeine Zeitung”. 1854 in Vermischte Schriften als Buch erschienen. Verfügbar auf http://heinrich-heine-denkmal.de (abgerufen am 20.07.2019).), England (Englische Fragmente) und Deutschland (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) wurde ein neues Genre aus der Taufe gehoben, dass als politische Prosa bezeichnet werden kann und die bewirkte, dass ein breiteres Publikum in die Wirkmechanismen von Politik Einblick erhielt.
Die Vision von Europa
Und schließlich der Visionär eines neuen Europa, das über die Nationalstaaten hinaus konzipiert werden müsse. Das entspräche vielleicht sogar der Diktion und Doktrin heutiger EU-Bürokraten, hätte Heinrich Heine damit nicht die Frage verbunden, wie eine Demokratie von unten zu gestalten sei.
Heine identifizierte einen gesamteuropäischen Klassenkampf, der das Movens zu einer Einigung darzustellen hätte.
Das konterkariert alle Narrative über eine EU, die
a) nicht Europa ist und
b) zum Zwecke von Partikularinteressen4Partikularismus findet als Begriff vor allem in der Politikwissenschaft Verwendung. In der Politischen Philosophie und in der Geschichtswissenschaft bezeichnet Partikularismus einen Zustand oder ein Konzept politischer Systeme, bei dem kleinere Einheiten dem Ganzen gegenüber ihre Interessen und Rechte vorrangig durchsetzen können oder dieses zumindest beanspruchen bzw. versuchen. funktioniert.
Die Biografie Hosfelds spart nicht die lyrischen Werke Heines aus, die zu seinem Weltruhm beitrugen. Die wesentlichen Komponenten bei der Etablierung des neuen Typus eines europäischen Intellektuellen sind jedoch in den existenziellen Bedingungen eines politisch schreibenden Literaten und in der Art und Weise des Brückenschlags von Mythendeutung, philosophischer Textanalyse und aktueller Aufbereitung zu suchen.
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.