Zumindest die Anthropologen sind sich einig: Der wesentliche Unterschied zwischen dem Homo sapiens und anderen entwickelten Säugetieren besteht nicht in seiner ausgeprägten Hirntätigkeit und den daraus resultierenden besonderen Fähigkeiten des Intellekts, sondern in der Fähigkeit, gesellschaftlich zu kooperieren.
Individualismus versus Kooperation
Wenn Kooperation tatsächlich als Alleinstellungsmerkmal zu gelten hat, dann sind alle Superlative, die im Zeitalter der Digitalisierung im Hinblick auf Wissen und die Vernetzung von Wissen verbreitet werden, nicht das Feld, dem die größte Aufmerksamkeit in politischer Hinsicht gewidmet werden müsste.
Es geht um den zivilisatorischen Stand von Zusammenarbeit. Was die globale Ordnung angeht, so ist diese allerdings nicht durch Kooperation, sondern durch Konkurrenz und Konfrontation gekennzeichnet.
Diese Erkenntnis sollte allerdings nicht die Einsicht überstrahlen, dass weltweit von Gesellschaft zu Gesellschaft erhebliche Unterschiede in puncto gelebter Kooperation existieren. Auf der Makroebene sieht es jedoch düster aus.
Die Bewegung der Blockfreien
Eine der positivsten Erscheinungen in der zurückliegenden, historischen Ära des Kalten Krieges zwischen Ost und West war die Bewegung der Blockfreien. In ihr hatten sich Staaten zusammengefunden, die nicht als Vasallen oder Satelliten der USA oder der UdSSR galten und für sich eine gesicherte Unabhängigkeit reklamierten.
Auf der berühmten Konferenz im indonesischen Bandung [1] fanden sich Länder wie China, Indonesien, Indien, Jugoslawien et cetera zusammen und beschlossen, in aktiven wirtschaftlichen Austausch zu treten und sich politisch zusammenzuschließen – unabhängig von den jeweiligen doch sehr unterschiedlichen Gesellschaftssystemen der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Das war weitsichtig, nutzte den einzelnen Mitgliedern und bescherte der Welt das einzige Korrektiv, das im Magnetfeld der beiden Supermächte etwas bewirken konnte.
Es war folgerichtig, dass die den Kampf überlebende Supermacht USA sofort ans Werk gingen, die Bewegung der Blockfreien zu zerstören. Das aus deutscher Sicht unrühmlichste Kapitel war dabei die Zerschlagung Jugoslawiens und der damit erworbene Ehrentitel eines Kettenhundes.
Zudem entwickelte sich China selbst zu einer Supermacht, dessen Interessen zunehmend mit dem Gedanken der Blockfreiheit kollidierten. Das Kapitel ist Geschichte, die Aufgabe einer internationalen, blockfreien Kooperation jenseits des Konkurrenzkampfes zwischen China und den USA um Weltherrschaft umso dringlicher.
Destruktive Gelüste
Ressourcenausbeutung und Ressourcenkriege, Kämpfe und Kriege um geostrategische Positionen sowie die weltweite, systematische Verwüstung von Biosphären führen zu einem Punkt, der zunehmend als Showdown zwischen der Existenz des Homo sapiens in einer erlebbaren wie lebenswerten Welt und dem monströsen, destruktiven Gelüste nach universaler Ausbeutung beschrieben werden muss.
Um den Kräften, die nach lebenswerter Existenz streben, eine Chance zu geben, bedarf es der Kooperation im Mikro- wie im Makrokosmos. Ob damit das Zeitalter der Individualisierung seinem schnellen Ende zustrebt, sei dahingestellt.
Fest scheint jedoch zu stehen, dass die Sucht nach individueller Selbstfindung und Selbsterfüllung politisch kein positiver und exklusiver Orientierungspunkt mehr sein kann.
Gemeinwohl vor Individualismus
Wer eine positive Prognose auf die Zukunft haben möchte, muss die Bemühungen unterstützen, die dem Bau von Koalitionen und Allianzen zur Gestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen dienen, in denen das Gemeinwohl über dem exzentrischen Individualismus steht.
Und was für die jeweilige politische Betrachtung in der eigenen Lebenswelt gilt, das muss auch in internationalem Maßstab eine wachsende Bedeutung annehmen.
Ein Modell wie die historische Bewegung der Blockfreien könnte da helfen. Wenn überhaupt, dann kann nur die Fokussierung auf wachsende Kooperation zu einer Wende führen. Dass die Menschheit das kann, sagt die Anthropologie. Ob sie es will, beantwortet die Politik.
Quellen und Anmerkungen
[1] Die Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement) ist eine internationale Organisation von Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und keinem der beiden Militärblöcke (NATO und Warscher Pakt) angehörten. Die Gründung der Organisation ging auf eine Initiative der Präsidenten und Staatschefs Josip Broz Tito (Jugoslawien), Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Jawaharlal Nehru (Indien) und Sukarno (Indonesien) zurück.
Bandung 1955
1955 trafen sich Abgesandte aus 23 asiatischen und sechs afrikanischen Staaten im indonesischen Bandung. Als Ergebnis der Konferenz verabschiedeten die 29 Staaten mehrere Resolutionen. Sie verurteilten jede Form von Kolonialismus und Rassendiskriminierung und forderten die Beachtung der Charta der Vereinten Nationen. Außerdem sprachen sie sich für den Abbau der Spannungen zwischen den Machtblöcken aus, forderten eine allgemeine Abrüstung und ein Verbot von Kernwaffen. Bei der Konferenz von Bandung wurden erstmals Forderungen der Dritten Welt nach Gleichberechtigung und Gleichbehandlung gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten geäußert. Die Konferenz von Bandung trug wesentlich zum Entkolonialisierungsprozess bei.
Belgrad 1961
Die Organisation der Blockfreien konstituierte sich 1961 auf ihrer ersten Sitzung in Belgrad. Der Bewegung der Blockfreien traten zahlreiche ehemalige afrikanische und asiatische Kolonien bei, die sich erst als Staaten konstituiert hatten oder noch um ihre Unabhängigkeit rangen. Die Blockfreien verurteilte die Blockbildung in der Zeit des Ost-West-Konflikts, weil dieser die Gefahr eines Dritten Weltkrieges erhöhte. Entsprechend setzten sich die Blockfreien für friedliche Koexistenz und Abrüstung ein.
Nach 1990
Mit der Auflösung des Warschauer Paktes Anfang der 1990er Jahre verlor die Organisation an Bedeutung. Heute verkörpern die Staaten der Blockfreien über 50 Prozent der Weltbevölkerung. Sie halten rund zwei Drittel der Sitze in der UN-Generalversammlung. Das Hauptanliegen der Blockfreien ist die Gleichberechtigung zwischen den Staaten sowie eine positive wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten. ↩
Symbolfoto: Timon Studler (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Individualismus oder Kooperation?“
Gerhard Mersmann hat absolut recht! Wenn wir die zerstörerische neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie nicht bald durch eine weltweite kooperative gemeinwohlorientierte ökosoziale Marktwirtschaft überwinden, brauchen wir uns um die Zukunft nicht mehr zu kümmern. Es wird keine geben! Da sich jedoch bereits seit einigen Jahren erstaunlich erfolgreich eine von “unten”, also von Unternehmerinnen und Unternehmern getragene Graswurzelbewegung, nämlich das Konzept der “Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ)”, ausbreitet, besteht noch Hoffnung. Wer noch Hoffnung in sich hat, sollte diese Bewegung vor allem intellektuell unterstützen und zur Verbreitung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beitragen. Umfangreiche Informationen findet man unter http://www.ecogood.org und einzelne Artikel auch auf http://www.neue-debatte.com.
Wir haben eine Chance!
Günter Grzega
Eine Kooperation und eine emotional andere Einstellung zum Miteinander ist wohl nur möglich, wenn die direkte Demokratie Einzug gehalten hat, wenn das Geldsystem zum Vollgeldsystem und so voll unter der Kontrolle des Volkes gelangt und wenn das bedingungslose Grundeinkommen akzeptiert und eingeführt ist. Das heutige unsinnige Streben nach immer mehr führt die Menschheit in den Abgrund.
Vielen Dank für die Gedanken, auch in den anderen Texten. Ich arbeite zur Zeit an diesem Thema. Meine Lösung nenne ich kooperativer Individualismus. Im Wesen beruht er darauf, dass sich Menschen, die natürlich individuell verschieden sind und sich während ihres Lebens entwickeln und verändern, mit ihren Talenten, ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten, ihren Ideen in gemeinschaftliche Waren- und Dienstleistungskörbe einbringen und aus diesen ihren individuellen Waren- und Dienstleistungsbedarf decken. So funktioniert auch die Natur.
Bei aller Kooperation bleibt die Individualität erhalten und sollte sogar gefördert werden.
Eine bedeutende Rolle spielen dabei solche Faktoren wie die modernen und zukünftigen Möglichkeiten der Vernetzung, Open Access, Open Content, Open Source. Die Vernetzung könnte ebenfalls aus der Natur übernommen werden. Eine Heterarchie mit Netzknoten und Führungshierarchie, aber keinen Machthierarchien.