Im Boden Lateinamerikas lagern enorme Mengen wertvoller mineralischer Rohstoffe, die für die Länder des Kontinents selbst und für die Weltwirtschaft gebraucht werden. Die Staaten Südamerikas verfügen über riesige Land- und Waldflächen. Einige grenzen an fischreiche Meere.
Im Gegensatz zur guten Ausstattung ihrer Natur belegen sie nur das hintere Ende, gemessen am wirtschaftlichen Fortschritt der Welt. In sozialer Sicht wird ihre Bevölkerung als arm eingestuft.
Die von der westlichen Medienwelt verbreitete Auffassung, dass Rohstoffreichtum allgemeinen Wohlstand hervorbringt, verschweigt, dass sich der Nutzen seit Langem nur bei westlichen Kreditgebern aus den USA und der EU einstellt. Dorthin wurden die Wertschöpfungsketten verlagert. Die Absicht der Medien ist erkennbar – von den Ursachen der Rückstände abzulenken. Wirtschaftliches Unvermögen der Regierungen und die Korruption trügen an den Miseren Schuld.
Gegenwärtig steht Venezuela im Fokus medialer Aufmerksamkeit, mit Tendenzen des Verschweigens wahrer Zusammenhänge, der Diffamierung. “Fakes News” fehlen oft nicht.
Der ehemalige Direktor der venezolanischen Zentralbank, D. F. Maza Zavala1Domingo Felipe Maza Zavala (1922 – 2010) war ein Ökonom. Von 1997 bis 2004 war er Direktor der Zentralbank von Venezuela und zuvor Abgeordneter des Kongresses. hat in seinem Sachbuch „Die Mechanismen der Abhängigkeiten“ (Verlag Fondo editorial Salvador de la Plaza) die Ursachen der Rückstände als ein Bündel von langfristig wirkenden Mechanismen beschrieben.
Er weist mit seinen Analysen der Zahlungsbilanz und der realen Abläufe nach, dass Auslandsbanken, der Internationale Währungsfonds (IWF) und transnationale westliche Konzerne (GE, GM, VW, Siemens, Monsanto, Odebrecht2Die Organização Odebrecht (Odebrecht Group) ist ein Mischkonzern mit Hauptsitz in Salvador da Bahia (Brasilien)., u.v.m.) die Verantwortung tragen. Wurzeln der Abhängigkeiten liegen im kolonialen Erbe.
Gegenwärtig sind es die Praktiken des Neoliberalismus, die die Ungleichheiten verfestigen. Die Monroe-Doktrin3Die Monroe-Doktrin war für fast zwei Jahrhunderte eine der wesentlichen Leitlinien der US-amerikanischen Außenpolitik. Die Doktrin geht auf die Rede von US-Präsident James Monroe (1758 – 1831) zur Lage der Nation im Jahre 1823 zurück. Zwei Bereiche waren wesentlich: Keine Einmischung der USA in die europäischen Angelegenheiten und die bestehenden Kolonien. Keine Rekolonialisierung beziehungsweise weitere Kolonialisierung oder Einmischung in amerikanische Angelegenheiten durch die europäischen Mächte. Sollte dies passieren, würde mit US-Intervention geantwortet. der USA bestimmt den Rahmen der neuzeitlichen Zusammenarbeit.
Zavalas Analysen über längere Zeitläufe belegen erzwungene Kapitalabflüsse ins Ausland. Am Beispiel Venezuelas durch überhöhte Zinsberechnungen für Bankkredite, ständige Zahlungen hoher Technologiegebühren, monopolisierte Versicherungs- und Seetransportleistungen und Ähnliches.
Die Negativsalden der Zahlungsbilanz schwankten jährlich um 280 bis 300 Millionen US-Dollar, die ständigen Geldabflüsse über konzerneigene Mutter-Tochter-Beziehungen nicht eingerechnet.

Mit hochverzinslichen Neukrediten mussten jährlich die Negativbeträge ausgeglichen werden. Bankenabhängige Ratingagenturen bestimmten die Zinshöhen. Sie lagen über Jahre im C-Bereich, nachweislich bis zu 18 % pro Jahr.
Die Konsequenzen führen zu einer ständigen Akkumulationsschwäche des Landes. Eine schnellere Industrialisierung des Landes, sowie die Schaffung eigener Quellen der Wertschöpfung werden verhindert. Für das Gesundheitswesen, die Schulbildung und für die Forschung verbleiben wegen der Abflüsse zu wenig finanzielle Mittel übrig.
Zavala listet sieben weitere Mechanismen der Abhängigkeiten auf:
- Juristische Ansprüche und Zugriffe der transnationalen Konzerne auf Rohstoffquellen, Forderungen nach Beteiligung des Landes an Erschließungskosten, sowie Befreiung von Steuern.
- Nutzung der ständigen Kreditgesuche zur Einflussnahme auf die Staatshaushalte der Länder (Forderungen zur Reprivatisierung und Umschichtungen des Haushaltes zulasten sozialer Aufgaben).
- Staatsverschuldungsstrategien als Geschäftsmodelle westlicher Banken und Investoren.
- Kreditmonopole, Monopole für Versicherungsleistungen und des seewärtigen Transportes. Verhinderung der Integration der Volkswirtschaften der lateinamerikanischen Länder untereinander.
- Verflechtungen mit nationalen Kapitalgruppen als Juniorpartner werden genutzt für Lobbynetze, für Subventionen zugunsten der Konzerne, für Fördermittel, auch für die Formulierung von Gesetzen.
- Zahlungspflichtige Beratungsleistungen und Gutachten für die Regierungen ziehen Gelder aus der Steuerkasse. Beratungen, die Systemfragen berührten, führten nicht zu Alternativen, um die Wirtschaftslage grundsätzlich zu verändern.
- Abwanderung der auf Landeskosten ausgebildeten jungen Generation – mit negativen Folgen. Es fehlen technologie- und organisationserfahrene Schichten zur Entwicklung der Länder und Fachleute für die Wirtschaft und Verwaltung.
Seit den Amtsantritten der Präsidenten Bush (junior), Obama und Trump haben die Mechanismen mit Sanktionen/Boykotte neue Verschärfungen erhalten. Das weltweite Banken- und Dollarnetz wird genutzt, um berechtigte Geldtransfers nach Venezuela und Kuba zu hindern. Mit der willkürlichen Einstufung von Ländern als Gefahr für die USA wird das Arsenal juristischer Mittel erheblich vergrößert.
Als Drohkulisse stehen traditionelle Militärstützpunkte in Panama, Kolumbien, Brasilien, Guantanamo auf Kuba zur Verfügung. Die IV. Flotte ist mobilisiert. Traditionell wird die Organisation Amerikanischer Staaten4Die Organisation Amerikanischer Staaten (Organization of American States) wurde 1948 in Kolumbien gegründet und hat heute ihren Hauptsitz in Washington. Der OAS gehören 35 Staaten Nord- und Südamerikas an. (OAS) von den USA bemüht, um die alte Abhängigkeitsordnung aufrecht zu erhalten. Die Brüder in Geist und Handlung aus der EU stehen für die Verteidigung der Abhängigkeitsmechanismen.
Ohne Veränderungen der Mechanismen wird es Lateinamerika schwer gelingen, einen gleichwertigen Platz in der Weltwirtschaft zu erreichen. Noch sind die Chancen extrem schlecht. Venezuela hängt zu etwa 92 % vom Erdölexport ab, Paraguay zu 90 % vom Export landwirtschaftlicher Produkte und Chile zu 63 % vom Export der Bergbauprodukte, wie CEPAL5Die Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) ist eine Organisation der Vereinten Nationen. Die CEPAL ist verantwortlich für die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Region. ausweist. Die Termes of Trade verschlechtern sich zu Ungunsten Lateinamerikas.
Mitte des 20. Jahrhunderts versuchten Nicaragua, Guatemala, Kuba, Peru, Chile den Mechanismen der Geldabflüsse und Abhängigkeiten zu entgehen. Mexiko schlug in der gleichen Epoche der UNO eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ (NIEO)6Die New International Economic Order (NIEO; Neue Weltwirtschaftsordnung) ist die Bezeichnung eines Plans zur Reformierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen zu Gunsten der Entwicklungsländer. vor. Unterstützung dafür erhielt Mexiko von der zweiten (sozialistischen) und dritten (nichtpaktgebundenen) Welt. Die Länder der ersten Welt (ehemals kolonialistische und aktuell westliche) stoppten die historische mexikanische Alternative in der UNO.
Zu Beginn des 21. Jahrhundert nutzte Hugo Chávez die günstigen Zeitumstände hoher Erdölpreise, um das Tor für die Werte des Humanismus, wie Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, soziale Menschenrechte für alle Schichten Venezuelas zu öffnen.
Ein äußerst hart geführter Widerstand der USA und ihrer Verbündeter bremst mit allen Mittel einer Großmacht den Versuch. Die westliche Welt sieht ihr System in Gefahr. Venezuela stützt sich auf gleichgesinnte Kräfte der Länder des Foro de São Paulo7Das Foro de São Paulo, auch als São Paulo Forum bekannt, ist eine Konferenz linker politischer Parteien und anderer Organisationen aus Lateinamerika und der Karibik. Es wurde 1990 von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores) Brasiliens in der Stadt São Paulo gegründet., die sich im Juli des Jahres in Caracas trafen.
Die Solidarität aus Europa ist begrenzt, Russland und China helfen nicht nur im Weltsicherheitsrat. Weltweite Grundforderung: Keine militärische Intervention von außen, die Weltentwicklung benötigt Alternativen zum Überleben.
Eine Alternative zu den Mechanismen der Abhängigkeiten ist zum Beispiel das 2004 gegründete ALBA Integrationsbündnis8Die Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América – Tratado de Comercio de los Pueblos (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika – Handelsvertrag der Völker, ALBA-TCP) ist ein wirtschaftliches und politisches Bündnis. Aktuell gehören elf Staaten Lateinamerikas und der Karibik der ALBA an. Das Bündnis sollte ursprünglich eine Alternative zur gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA darstellen. Diese wurde von den USA geplant. , offen für alle Staaten aus Lateinamerika.
ALBA verfolgt eine nicht gewinnbringende Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern und setzt auf Formen der solidarischen Ökonomie. Erste Projekte wurden auf den Weg gebracht.
Die Gründung der BANCO SUR9Die Bank des Südens (Banco del Sur) ist ein Projekt einer südamerikanischen Entwicklungsbank. Im Februar 2007 beschlossen Hugo Chávez und sein Argentiniens Präsident Néstor Kirchner die Gründung der Bank. Über den Gründungsprozess kam sie bisher nicht hinaus. Die Parlamente von Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay und Venezuela haben die Gründung ratifiziert. Es fehlt aber noch die Zustimmung der Länderparlamente von Brasilien und Paraguay. und die Einführung der Verrechnungswährung SUCRE10Sistema Unitario de Compensación Regional (Einheitliches System des regionalen Ausgleichs) ist die gemeinsame Rechnungswährung der ALBA-Staaten für den gegenseitigen Handelsverkehr. Die neue Währung wurde im Januar 2010 eingeführt. Sie existiert nur als Buchgeld. entziehen den USA den Zugriff auf den internationalen Geldtransfer und ermöglichen den Mitgliedern einen Handelsaustausch ohne vorab akkumulierte Geldreserven.
Die 2019 abgeschlossene Vereinbarung der EU mit dem südamerikanischen MERCOSUR11Mercosur (Mercado Común del Sur) ist die Bezeichnung für den „Gemeinsamen Markt Südamerikas“. schränkt die Mechanismen der Abhängigkeiten dagegen kaum ein.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Günter Buhlke erschien erstmals bei unserem Kooperationspartner Pressenza. Er wurde redaktionell überarbeitet. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Symbolfoto und Grafik: Jordan Donaldson | @jordi.d (Unsplash.com) und Iñaki Salazar (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:World_countries_Standard_%26_Poor%27s_ratings.svg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71514251)
Günter Buhlke ist Jahrgang 1934 und Dipl. Volkswirtschaftler. Er studierte an der Humboldt Universität und der Hochschule für Ökonomie Berlin. In den 1960er und 70er-Jahren war Buhlke international als Handelsrat in Mexiko und Venezuela tätig und Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu Lateinamerika. Später Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft, Referent im Haushaltsausschuss der Volkskammer und des Bundestages und von 1990 bis 1999 Leiter der Berliner Niederlassung des Schweizerischen Instituts für Betriebsökonomie. Günter Buhlke ist verheiratet, lebt in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich.