Die in den hiesigen Medien zur Schau getragene Empathie mit den Protesten in Hongkong korrespondiert nicht mit dem Schweigen zu den Ereignissen in Frankreich. Dort, im fernen Hongkong, so die Lesart, hat sich die Bevölkerung heldenhaft erhoben gegen die drohende Tyrannei aus dem benachbarten China und in Frankreich passiert nichts, was der Rede wert wäre. Das ist, mit Verlaub, verdächtig.
Die Totenstille
Nun ist es immer schwerer, sich Klarheit über Ereignisse in Asien zu verschaffen, als einen Blick auf das Nachbarland zu riskieren. Letzteres wird nicht getan, weil es nicht ins Narrativ passt.
Es liegen unzählige Berichte vor, wie der außer Rand und Band geratene Präsident Emmanuel Macron auf die inländischen Proteste einschlagen lässt. Hätten die immer wieder zur Unzeit bemühten Werte irgendeine Bedeutung, dann müsste eine Nachrichtensendung die nächste jagen. Stattdessen herrscht Totenstille.
Im Falle Hongkongs, bei dem selbstverständlich die demokratischen Werte eine große Rolle spielen, handelt es sich jedoch um eine andere Interessenlage. Da geht es darum, einem wirtschaftlich, politisch und militärisch immer stärker werdenden Konkurrenten, der Volksrepublik China, ein schlechtes Zeugnis auszustellen.
Bis dato scheint das zu gelingen. Denn die Erzählung berichtet davon, dass sich die Proteste dort gegen das Ansinnen der Regierung wendet, im Ausland straffällig gewordene Straftäter in die Volksrepublik China ausliefern zu können. Das ist ein kleiner Teil, um den es geht.
Hongkong und das Recht
Anlass der Gesetzesinitiative war ein von einem Hongkong-Chinesen in Taiwan begangener Mord. Bevor er dort festgesetzt werden konnte, schaffte er es zurück nach Hongkong. Von dort darf er jedoch nach geltendem Recht nirgendwohin ausgeliefert werden.
Das Recht, das noch Bestand hat, stammt aus der Zeit Hongkongs als britischer Kolonie. Dass Letztere aufgrund ungleicher Verträge aus den Zeiten der Opiumkriege Großbritannien zugeschlagen wurde, sollte bekannt sein. Und dass sich die Kolonialherren dort ein Refugium schufen, um sich vor Nachstellungen aus der gesamten Region aufgrund ihrer kolonialen Raubzüge und Übergriffe in Sicherheit zu bringen, dokumentiert dieses Gesetz.
Mehrere Fälle der letzten Zeit hatten deutlich gemacht, dass dieser Zustand mit dem Völkerrecht nicht in Einklang zu bringen ist. Dass auch die Volksrepublik China zuweilen Opfer dieser Regelung wurde, versteht sich nahezu von selbst.
Gründe für den Massenprotest
Dass die Protestbewegung immer wieder Bezug auf die goldenen Zeiten der Kronkolonie verweist, was sie bei der Stürmung des Parlaments und dem Hissen der Fahne der einstigen britischen Kolonie taten, ist nicht die beste Referenz.
In den hiesigen Medien wird gerne gerade darauf Bezug genommen mit dem Hinweis, es ginge der Bewegung um Demokratie. Doch die Freiheiten, um die es – laut hiesiger Berichterstattung – der Protestbewegung geht, hat es zur Zeit der britischen Herrschaft gar nicht gegeben. Ein sehr aufschlussreicher Aufsatz sei hier zitiert:
„Der Gouverneur, der die Macht in Händen hielt, wurde nicht gewählt, sondern der südchinesischen Metropole aus dem fernen London oktroyiert. Der LegCo (Legislative Council) wiederum wurde – wie heute – zur Hälfte von berufsständischen Organisationen gewählt, zur anderen Hälfte aber vom Gouverneur ernannt.“ (Jörg Kronauer: Ultimative Provokation. Was sind die Gründe für die Massenproteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong?; in konkret 8/2019, S. 28ff.)
Der Konkurrenz schaden
Sollte es also sein, dass das Herz unserer hiesigen Musterdemokraten wieder einmal für die Restauration kolonialer Zustände schlägt? Überraschen würde es nicht.
Was es zeigt, ist, dass mit aller Kälte auf das historische Unwissen vieler Nachrichtenkonsumenten abgezielt wird, um einen interessengeleiteten Effekt zu erzielen. So wie es scheint, sind alle Hemmungen verschwunden. Umso deutlicher wird die Absicht: Es geht darum, der Konkurrenz zu schaden und sich selbst noch gut dabei zu fühlen – trotz des eigenen Unvermögens.
Und nur nebenbei: Gegen das Vorgehen der Polizei in Frankreich erweisen sich die Hongkonger Sicherheitskräfte wie ein Philanthropen-Verein.
Foto: Sam Balye (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Hongkong: Die vermeintlich goldenen Zeiten der Kronkolonie“
Wieder ein sehr treffender Artikel zum Thema. DANKE!