Im November 1989 wurde von den Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes verkündet. Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens beschreiben und erklären wir in einer Beitragsserie die wesentlichen Inhalte dieser Völkerrechtskonvention für die Lebensspanne der Kindheit eines jeden Menschen.
Dies ist dringend nötig, denn die Rechte der Kinder werden auch in unserem Lande von allen Regierungen und Parlamenten weiterhin missachtet und täglich millionenfach verletzt. Dies kann sich nur ändern, wenn diese Rechte Allgemeingut werden und ihre Gewährleistung von uns allen mit Nachdruck eingefordert wird.
In unserem zehnten Beitrag geht es um Einschränkungen und Behinderungen, die es gar nicht mehr geben darf sowie um den angemessenen Lebensstandard …
Behinderung (Artikel 23)
Es gibt Kinder, die – häufig schon von Geburt an – mit lebenslangen starken Beschwerden, ausgeprägten Einschränkungen und großen Beeinträchtigungen zu leben und mit diesen „Handicaps“ im Alltag zu kämpfen haben.
Diese Kinder, die in einer überholten Nomenklatur immer noch als „behindert“ bezeichnet werden, haben das Recht auf besondere Betreuung und Unterstützung.
Diese ist unter der Berücksichtigung der finanziellen Mittel der Eltern unentgeltlich zu leisten und so zu gestalten, dass Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.
Gemäß den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention – welche zehn Jahre nach der Übereinkunft über die Rechte des Kindes in unserem Land in Kraft getreten ist – geht es darüber aber noch hinaus. Seitdem dürfen Menschen jeden Alters mit einer Behinderung nämlich überhaupt nicht mehr „behindert“ werden.
Für diese Menschen wurde völkerrechtlich ein Paradigmenwechsel festgeschrieben, der in der Quintessenz gipfelt: Es gibt keine Menschen mit Behinderungen mehr, sie werden höchstens behindert.
Eine „Behinderung“ beziehungsweise einen schulischen, öffentlichen oder gesellschaftlichen Ausschluss darf es für kein einziges Kind mehr geben! Deshalb sind – unter vielem anderen – sämtliche Lebensbereiche wie Wohnungen, Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Sportplätze oder Verkehrsmittel so zu gestalten, dass sie allen Kindern offen stehen und – die Bewegungsfreiheit ist die Grundlage jeder Art von Freiheit – ohne Barriere zugänglich sind.
Es ist also nicht mehr nur zu gewährleisten, dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen kann, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbstständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern. Es muss – so gibt es die UN-Behindertenrechtskonvention vor – die vollständige Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglicht werden; auch wenn eine institutionelle Betreuung, Behandlung oder Pflege nötig sind.
Unterbringung (Artikel 25)

Es ereignen sich Unfälle, höhere Gewalt, Dramen und Tragödien, die einem Kind seine Gesundheit gefährden oder nehmen können – schon während der Schwangerschaft und zu jedem Zeitpunkt seines Lebens. Leichte, vorübergehende oder schwerste, dauerhafte Erkrankungen ohne Hoffnung auf Besserung mit lebenslanger Behandlungs- beziehungsweise Pflegebedürftigkeit.
Der Staat gewährleistet auch hier das Beste und überprüft seine Notwendigkeit und Qualität. Er erkennt an, dass ein Kind, das von den zuständigen Behörden wegen einer körperlichen oder geistigen Erkrankung zur Betreuung, zum Schutz der Gesundheit oder zur Behandlung untergebracht worden ist, das Recht auf eine regelmäßige Überprüfung der dem Kind gewährten Behandlung sowie aller anderen Umstände, die für seine Unterbringung von Belang sind, hat.
Alles was von Belang ist – Notwendigkeit und Qualität – spielt eine Rolle. Die Qualität ist eindeutig. Deshalb darf auch nicht mehr der ebenfalls überholte Begriff „Unterbringung“ Verwendung finden. Kinder sind keine Gegenstände, die untergebracht und irgendwie versorgt werden müssen. Ganz im Gegenteil, es ist das Beste aufzubieten, also alles, was ein Kind für sein Wohlergehen, seine Genesung und Behandlung sowie für seine Sicherheit benötigt.
Soziale Sicherheit (Artikel 26)
Jedes Kind hat das Recht auf ein Aufwachsen in körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden, in Gesundheit und Sicherheit. Dafür ist für jedes Kind eine Grundausstattung nötig.
Gesunde Ernährung, schöne Wohnung, Musik und Sport, jeweils nach den Begabungen, Interessen und Wünschen des Kindes. Schadstoff freie Kleidung, Geld für Eintrittskarten, Vereine, Geschenke für die Freunde, Computer oder Handy. Taschengeld für dies und das. Teilhabe am gesamten gesellschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Leben.
Können sich dies die Eltern nicht leisten oder ihrem Kind beziehungsweise ihren Kindern nicht ermöglichen, muss der Staat eintreten und Leistungen der sozialen Sicherheit sowie alle Voraussetzungen für eine bestmögliche Entwicklung, Wohlergehen und ein gesundes Leben eines jeden Kindes gewährleisten.
Diese völkerrechtlich verbindliche Vorgabe ist am besten umsetzbar, wenn alle bisherigen Leistungen der sozialen Sicherheit – ohne Antragstellung und „Bürokratie“ – in einer finanziellen Leistung an alle Familien zusammengeführt werden. Eine Leistung, die zudem Kindern und Eltern selbst die Entscheidung überlässt, wie und wozu sie diese Mittel einsetzen möchten: eine finanzielle Grundausstattung für Gesundheit, Selbstbestimmung, Freiheit und soziale Sicherheit.
Der angemessene Lebensstandard (Artikel 27)
Der Staat erkennt das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an. Dabei ist es in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.
Der angemessene Lebensstandard ist die materielle Voraussetzung für das Wohlergehen eines Kindes. Er ermöglicht Wohlfühlen und gesund sein sowie die volle Ausbildung der Interessen und Talente.
Für alle Eltern, die ihren Kindern dies nicht selbst bieten können, muss der Staat im Rahmen seiner Mittel geeignete Maßnahmen treffen, um den Eltern und anderen für das Kind verantwortlichen Personen bei der Verwirklichung dieses Rechts zu helfen.
Eine finanzielle Grundsicherheit von Geburt an wäre – nach der Berücksichtigung der Meinung eines Kindes [siehe: Mitbestimmung: Artikel 12, 13 und 15] – eine weitere Neuausrichtung in der Machtverteilung in unserem Land, jetzt zwischen Kindern und Eltern einerseits und dem Staat und seinen Regierungen, Verwaltungen und Behörden andererseits. Denn Letztere könnten keiner Familie mehr vorschreiben, wie sie ihren Alltag zu führen und ihre Kinder großzuziehen haben.
Der angemessene Lebensstandard ist für ein Kind in einem wohlhabenden Land der Größtmögliche. Zeit für Kinder und finanzielle Sicherheit für ihre Familien sind die Grundvoraussetzungen.
Zu den für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen gehören weiter die vielfältigsten Lebensräume – Platz zum spielen, rennen, lärmen, ausruhen und übermütig sein. Lebensräume für Kinder, Spielstraßen, Bürgersteige mit Platz für Kinderwagen und Kinderräder, durch eine Stadt vernetzte Spiel- und Abenteuerplätze, Sportanlagen, Schwimmbäder, Skaterbahnen und Halfpipes, reichlich ausgestattete Jugendklubs und Jugendtreffs – und alles, was das Kinderherz begehrt.
Weitere Teile der Serie
Link zu Teil 1: Die Vorgeschichte
Link zu Teil 2: Die Präambel
Link zu Teil 3: Prinzipien und Wohlergehen
Link zu Teil 4: Mittel und Umfang
Link zu Teil 5: Eltern und Verantwortung
Link zu Teil 6: Flucht und neue Familie
Link zu Teil 7: Sicherheit und Gesundheit
Link zu Teil 8: Mitbestimmung und Freiheit
Link zu Teil 9: Schule, Bildung, Leben
Ein Gedanke
Kleines Beet im Unkrautfeld?
Von Harry Popow
Kinderrechte, Erziehungsprobleme, Mieten, Frauenrechte, Frieden/Kriegsprobleme, prekäre Arbeitsverhältnisse, Lehrermangel, Bildungsfragen, Arbeitslosigkeit, Armut …
Jedes Problemgebiet ist wie ein kleines Beet im riesigen Unkrautacker, mitunter auch Sumpf genannt. Nenne mir einen gesellschaftlichen Widerspruch im Kapitalismus, der für sich allein lösbar wäre ohne nach den Ursachen für die gesellschaftlichen Konflikte zu fragen. Lösungsvorschläge unterbreiten bei fehlender Utopie, ohne Wegweiser für eine Alternative? Oder sollte man bei Misshandlungen und Ausbeutung von Kindern – ähnlich, wie es Politiker tun – Hilferufe Richtung mehr Überwachung und Polizei aussenden? Oder die Täter noch strenger bestrafen? Oder einen Katalog über Kindesmisshandlungen mit Namen und Adresse im Internet veröffentlichen?
Ich sehe vorläufig nur einen Weg: Statt Kinder zum Beispiel mit Sexspielzeug zu konfrontieren, muss jeder Erwachsene und Lehrer darum bemüht sein, die Rechte der Kinder zu erläutern, ihnen den Rücken für Selbstvertrauen zu stärken, ihnen Mut zu machen, sich zu verteidigen. Das Vorbild der Erwachsenen ist dabei ausschlaggebend.
Echte Lösungen sähen so aus: Den gesamten Acker der gesellschaftlichen Unbilden umpflügen, wie es bisher die sozialistische Idee versucht hat. Man ist doch lernwillig, oder nicht mehr?
Ein Epilog
Um das große Ganze kämpfen
Von Gunther Sosna
Kein Mensch, weder ein Erwachsener und schon gar kein Kind, muss die ihm zustehenden Rechte erbitten. Sie sind jedem von Geburt gegeben.
Der moderne Staat als Konstruktion zur Abbildung der Massengesellschaft und seine Institutionen sind (aus dieser Perspektive betrachtet) lediglich Ausführende, die das Übereinkommen über die Rechte des Kindes in Praxis umzusetzen haben. Gleiches gilt für die Politik, deren Protagonisten Kinder und Jugendliche oft genug als Zukunft bezeichnen.
Doch es zeigt sich die Absurdität, wenn von Chancengleichheit gesprochen wird, aber fundamentale Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Dies ist nicht nur ein Widerspruch, sondern zeugt von sozialem Desinteresse bis hin zur Verlogenheit.
Eine Chance zu haben, bedeutet, vom identischen (materiellen und sozialen) Ausgangspunkt aus, ins Leben zu starten.
Dies ist nur in einer Gesellschaft gleichgestellter Subjekte vorstellbar, die für jedes Kind identische Möglichkeiten zur Bildung, Ausbildung und Teilhabe am sozialen Leben schafft, also bereits vor der Geburt die Basis legt für ein gesundes und übergreifend erfolgreiches Leben.
Dazu gehört ein selbstbestimmtes Dasein, kritisches Bewusstsein und die Freiheit im Handeln, das sich an verbindlichen Werten orientieren kann. Insofern ist das geschriebene Recht nur etwas wert, wenn es nachvollziehbar ist und in der Lebenswirklichkeit notwendige Taten folgen. Davon sind die Staaten bürgerlicher Prägung, die sich auf das kapitalistische Wirtschaftssystem stützen, allerdings himmelweit entfernt. Sie nutzen das Recht, um Recht auszuhebeln.
Eine konsequente Umsetzung der Rechte des Kindes setzt die Überwindung der Klassenunterschiede voraus, die sich bereits im Mutterleib auf das ungeborene Leben auswirken – Ernährung, medizinische Betreuung, Stress usw.
Diese Überwindung ist aber nicht gewollt und auch unter den sozialen Gegebenheiten nicht realistisch, da dies Fairness, Kooperation, verbindliche Werte und Gemeinschaft voraussetzen würde – alles Aspekte, die in einer Konkurrenz- und Abschöpfungsgesellschaft per se nicht gegeben sind. Dabei fördern beide Ansätze Verhaltensmuster, die man ohne schlechtes Gewissen als asozial bezeichnen kann. Sie enden final in der Spaltung der Gesellschaft, ausgedrückt durch quälende Armut und pervertierten Reichtum.
Damit wird das Ringen um die Rechte des Kindes zu einem weltweiten Kampf zur Durchsetzung der Allgemeinen Menschenrechte und somit zur Überwindung der Klassengesellschaften inklusive ihrer grotesken materiellen Unterschiede. Es gilt, um das große Ganze zu ringen. Alles andere ist weniger als eine Utopie, sondern lediglich eine Illusion.
Symbolfoto: Rachel (Unsplash.com)