Kürzlich, bei der Planung eines Symposiums, bei dem es um das Thema Digitalisierung gehen sollte, erhielten wir von einem renommierten Soziologen, der sich seit Jahren mit dem Thema der Innovationen beschäftigt, eine verstörende, aber verständliche Absage. Obwohl es bei dem Symposium aus unserer Sicht nicht um das allgemein übliche Euphorie-Szenario, sondern um eine kritische Bewertung des Sachstandes und einen Ausblick auf Potenziale sozialer Veränderungen gehen sollte, wollte der Mann nicht zusagen. Seine Begründung:
Er halte die leeren Statements und das Jubelgeschrei im Orkan der Abstraktionen nicht mehr aus, er tue sich das nicht mehr an.
Was hier beschrieben wird, ist ein Trend. Das, was unter dem Begriff der Digitalisierung transportiert wird, ist zum großen Teil zum Schaudern und bringt in keiner Weise weiter. Die plattesten Vertreter der technologischen Epoche sind am schnellsten zu demaskieren: Ihnen schwebt eine Herrschaft der Algorithmen über das lohnabhängige Objekt Mensch vor.
Dass die Gewerkschaften in diesem Kontext nicht aufmerksamer sind, beschreibt den Zustand politischer Tristesse. Auch das wird sich ändern.
Analoge Denkweisen ins Nichts
Nun kann man sich zurückziehen, die Nase rümpfen und sich mokieren über die sehr einfache Strukturierung der Handelnden. Das wäre jedoch eine Form der Arroganz, die dem Zusammenhang nicht gerecht wird.
Aus meiner Sicht stimmt zwar, was viele Kritiker formulieren. Nämlich dass vieles, was heute digitalisiert wird, analogen Denkschemata entspricht und daher sprichwörtlich in Sachen Zukunftsgestaltung für die Katz ist.
Analog denkende Menschen modellieren Prozesse, die dieser Denkweise entsprechen, so, dass sie von der digitalisierten Technik getrieben werden können. Das vermeintlich Neue, das so entsteht, ist eine technologisch verfremdete Version des Altbekannten. Daher sind die heftigen Diskussionen um diese Version einer Vorstellung von der Zukunft überflüssig. Sie führen zu nichts.
Das, was sich nicht nur in technologiespezifischer Hinsicht momentan vollzieht, deutet sich immer heftiger in der Ökonomie an. Die alten Vorstellungsweisen und Strukturen scheinen dem, was entsteht, nicht mehr zu entsprechen.
Wollte man einen marktsoziologischen Terminus finden, der diese Phase am besten beschreibt, dann ist es der längst etablierte der schöpferischen oder kreativen Zerstörung. Der österreichische Ökonom und Politiker Joseph Alois Schumpeter (1883 – 1950) hatte den Begriff erdacht, um eine Verlaufsform des Kapitalismus zu beschreiben [1].
Der Prozess der kreativen Zerstörung
Immer dann, so Schumpeter, wenn sich der Charakter oder die Konstellation der Produktionsfaktoren radikal verändern, werden die alten Denkweisen und Strukturen zerstört und es entsteht ein Chaos, aus dem sich die Komponenten einer neuen Konstruktion von produktiven Prozessen etablieren. Diesen Prozess hat er die kreative Zerstörung genannt.
Und diese Beschreibung ist in hohem Maße geeignet, um das zu beschreiben, was momentan allenthalben zu beobachten ist.
Wenn sich sowohl die Denkweisen als auch die Strukturen radikal verändern, ist es folgerichtig, dass dies Auswirkungen auf die Politik und das politische System haben muss. Wenn der Satz, dass die Politik konzentrierter Ausdruck der Ökonomie ist, als noch gültig angesehen werden muss, wogegen nichts spricht, dann ist die nahezu flächendeckend zu beobachtende Krise der Politik und des politischen Systems schlichtweg der logische Ausdruck des wuchtigen Prozesses der kreativen Zerstörung in der Ökonomie.
Sozial Neues erschaffen
Diese Erkenntnis führt ihrerseits zu der notwendigen Mahnung, sich nicht auf die Beobachtung zurückzuziehen und mal zu schauen, was alles kommen mag. Ganz im Gegenteil: Im Prozess der kreativen Zerstörung kommt es auf die Subjekte an, die in ihm frühzeitig die Trends erkennen und die Möglichkeiten zu nutzen wissen. Auch dieser Prozess kann zur Perpetuierung1Der Begriff Perpetuierung bezeichnet die Aufrechterhaltung und Fortdauer einer Situation oder eines faktischen, sozialen, emotionalen oder rechtlichen Zustands. Handelt es sich nicht um einen irreversiblen Zustand, so werden als Mittel, diese Dauerhaftigkeit zu gewährleisten, ständige Wiederholungen veranlasst oder durchgeführt bzw. haltbare Dokumentationen gefertigt. des destruktiven Denkens führen, er kann aber auch genutzt werden, um sozial Neues zu schaffen.
Quellen und Anmerkungen
[1] Joseph Alois Schumpeter (1883 – 1950), der 1939 die US-Staatsbürgerschaft annahm, war ein österreichischer Nationalökonom und Politiker. Den Versuch, die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus zu erklären, unternahm er 1912 in seinem Werk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Schumpeter setzte sich in seinen Schriften auch mit Kapitalismus und Sozialismus auseinander. Den Kapitalismus hielt er für nicht überlebensfähig, durch die auf den Kapitalismus selbst zurückwirkenden Konsequenzen seines Erfolgs. ↩
Illustration: Neue Debatte mit Material von Br Yonten Phuntsok (Pixabay.com/Lizenz)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.