Der französischsprachige Film der 1960er Jahre sorgt dafür, dass die herausragenden Akteure des Modern Jazz aus den USA noch einmal mit bisher nicht vermarkteten Aufnahmen zu uns kommen, die an Qualität die Tür zu einer damals kaum bewusst wahrgenommenen neuen Qualität aufstoßen.
Davis, Monk und Coltrane
Die Filmmusik von Miles Davis zu „Ascenseur pour l’échafaud“ (Fahrstuhl zum Schafott) fällt insofern aus dem Rahmen, als dass die Aufnahmen 1958 entstammten, quasi als letzte Sequenz anzusehen sind und sofort als eines seiner großen, bis heute unerreichten Werke beschrieb.
In jüngster Zeit gesellten sich zu diesem bekannten Werk noch zwei dazu, die allein beim Hören gewahr werden lassen, wie sphärisch und reflektiert es im französischen Underground Film der Sechzigerjahre zuging.
Vor nicht allzu langer Zeit erschienen Thelonious Monks Einspielungen zu „Les liaisons dangereuses“ (Gefährliche Liebschaften, 1960), die das Spektrum dessen, was von ihm bekannt war, noch einmal um eine weitere inspirierende Note erweiterten.
Und nun, 2019, gesellen sich die Aufnahmen John Coltranes zu dem franco-kanadischen Film „Le chat dans le sac“ (Die Katze im Sack, 1964) hinzu. Insofern haben wir nun die großen Revolutionäre des amerikanischen Modern Jazz als Filmmusiker beisammen: Miles Davis, Thelonious Monk und John Coltrane.
Naima
Dass die Untermalung eines Filmes um eine junge Beziehung, der im Montreal der Sechzigerjahre spielt, mit John Coltranes Titel Naima beginnt, zeigt, wie auch die filmische Avantgarde ihre spirituellen Eingebungen aus dem zeitgenössischen Jazz speiste.
Naima selbst ist aus heutiger Sicht ein Titel, dem eine eigene Rezeptionsgeschichte gebührt. Coltrane komponierte ihn für seine erste Frau. Er gehört bis heute zu den in bestimmten amourösen Situationen am meisten gespielten Titeln und reicht bis zur Namensgebung für die Tochter eines deutschen Schauspielers.
Die anderen Titel, die den Film untermalend und akzentuierend bereichern, sind Village Blues, Blue World, Like Sonny und Traneing In. Keines dieser Stücke ist obsolet, alles ist stimmig, es wird beim Hören deutlich, dass sich niemand bei diesen Aufnahmen gedacht hat, es handele sich ausschließlich um schnell verdiente, immer so bitternötige Dollars.
Die Produktion fand in den legendären Rudy van Gelder Studios statt und Coltrane spielte zusammen mit großartigen Musikern wie McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones.
Blue World
Das Ergebnis liegt vor. Das Einzige, was zu bedauern ist, dass noch niemand auf die Idee kam, die CDs aller drei genannten Akteure zusammen mit den jeweiligen Filmen zu veröffentlichen oder gar alle drei in ein Paket zu schnüren. Das wäre eine großartige Aktion, die der zwar kurzen, aber kulturhistorisch markanten Epoche einer franco-amerikanischen Kooperation die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdient.
In den USA sind diese Projekte übrigens bis heute nahezu unbemerkt und die Rolle des französischen Films wird nahezu ignoriert.
Was bleibt, ist John Coltranes Blue World zu empfehlen, weil es sich um großartige Aufnahmen handelt. Aber: Wer Coltrane erst noch empfehlen muss, der hat schon verloren.
Titelliste
John Coltrane: Blue World (Impulse!)
Naima (Take 1)
Village Blues (Take 2)
Blue World
Village Blues (Take 1)
Village Blues (Take 3)
Like Sonny
Traneing In
Naima (Take 2)
Veröffentlichung: 27. September 2019
Aufnahme: 24. Juni 1964
Label: Impulse! Records
Foto: Hugo van Gelderen / Anefo – Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANeFo), 1945-1989, Nummer toegang 2.24.01.05 Bestanddeelnummer 915-6748, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27600885 (cropped)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.